„East Block“ – Ein Überlebender im Gefängnis von San Quentin in Kalifornien erzählt

Die Nachricht verbreitete sich schnell bei den verurteilten Insassen im East Block: „Die Jungs aus Chino haben den Virus eingeschleppt.“ [Red.: Aus dem Gefängnis des kalifornischen Ortes Chino, der ein Corona-Hotspot war, waren Häftlinge in dreistelliger Zahl ungetestet nach San Quentin verlegt worden.] Ich habe nicht zweimal darüber nachgedacht, in meiner Zelle zu bleiben, mich vom Hof fernzuhalten, dachte, wenn ich es kriege, kann ich mir nicht vorstellen, dass das Krankenhaus alles daran setzt, einen verurteilten Gefangenen zu retten, wenn es vollgestopft ist mit Bürgern, die schwer krank sind. Obendrein weiß ich, wie das Gefängnispersonal Überstunden macht, wie sie in jeder Abteilung von San Quentin eingesetzt werden. Und wenn einer von ihnen es kriegt, dann wird es sich wie ein Buschfeuer im ganzen Gefängnis verteilen, weil – einfach gesagt – niemand genau weiß, wie sich das Virus verteilt, aber wir wissen, es ist hoch ansteckend.
Ich sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. Ich sehe, wie die Verurteilten im Hof ihrem Leben nachgehen, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Die Basketballspieler werfen Körbe, Karten werden auf den Doppelkopf-Tisch geklatscht. Der Klang von Dominosteinen, die auf einem anderen Tisch krachen, während andere sich um den Schachtisch herum drängen, zusammen die Strategien von zwei Spielern analysieren, die gegeneinander antreten. In der Gymnastik-Crew stehen alle in einer Reihe, zählen und machen gemeinsam Liegestütze; die Muskelprotze stolzieren nach jedem Satz am Barren mit herausgestreckter Brust herum, lachen, scherzen und wetteifern freundschaftlich darum, wer die meisten Barrenstützen oder Klimmzüge machen kann – ich gehöre zu ihnen. Die Klatschtanten drängen sich alle zusammen und informieren sich gegenseitig über die neuesten Nachrichten. Die Gefängnisanwälte argumentieren über die Feinheiten des Rechts, während sie Anträge, Fälle und Urteile mit ihrem Publikum teilen, um ihren Standpunkt klar zu machen. Künstler zeigen ihre Kunstwerke und versuchen, einen Dollar zu verdienen, und den ganzen Tag über tauschen wir alle miteinander Lebensmittel von unserem Mittagessen aus – die meisten öffnen die Verpackung direkt dort und essen ohne zu überlegen.
Corona-Ausbruch in San Quentin
Am nächsten Tag ging der Alarm los, während die Mitarbeiter gerade unsere Frühstückstabletts verteilten, als sie jemanden fanden, der nicht ansprechbar war, und schnell feststellten, dass dies unser erster Covidfall im Gefängnis war. Tage vergehen, und alles, was man hört, ist wenn der Alarm losgeht, als ob Covid das neueste Mitglied im Todestrakt wäre, der den größten Teil des East Block infiziert hat, in dem 540 Männer wohnen. Es waren so viele angesteckt, dass sie sie nirgendwo hin bringen konnten, um sie zu isolieren, es gab keinen Platz für sie, weil es durch das ganze Gefängnis lief. Einer meiner engsten Freunde hier, der im Krankenhaus fast gestorben wäre, musste 30 Minuten warten, in denen er nach Luft rang, weil das ganze medizinische Notfallpersonal anderweitig beschäftigt war. Unser reguläres Strafvollzugspersonal fehlte immer häufiger. Später stellte sich heraus, dass auch sie infiziert waren, und die Worte, die in den Medien widerhallen: „Wir stecken da alle gemeinsam drin“, wurden immer deutlicher.
Der East Block, der normalerweise gefüllt ist mit Gelächter, Streit, Lügen, Geplänkel, Gesang und dem Brüllen von Anweisungen der Mitarbeiter über die Lautsprecher, kam zum Erliegen. Es wurde still, unheimlich still, und das einzige Geräusch, das man hörte, war das der Kranken, was im Grunde genommen jeder war, die ohne Unterbrechung husteten, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte, gefolgt von Erbrechen, aber kein normales Erbrechen, sondern Schleim, der aus ihren Lungen quoll.
Tödliche Stille
Es war die Stille, die mir zu schaffen machte. Es hat mich wieder in die Wirklichkeit zurückgebracht, im Todestrakt zu sein. Ich erinnere mich an diesen Klang oder eher das Fehlen der Geräusche, gepaart mit der nervösen Energie, mit der das Gefängnis erfüllt war, während wir hofften, dass einer unserer Genossen einen Aufschub der Hinrichtung erhält, nur um einen eiskalten Schauer den Rücken herunter zu spüren, als wir hörten, dass stattdessen um 12.01 Uhr die tödliche Injektion in seine Venen gespritzt wurde. [Red.: Kalifornien hat mit über 700 Häftlingen den größten Todestrakt der USA, aber seit 2006 niemanden mehr hingerichtet.]
Nach einer Hinrichtung beschäftigt sich jeder ernsthaft mit seiner Berufung und sucht nach einem Weg, eine Aufhebung zu bekommen und damit aus dem Todestrakt wegzukommen; und ich folge voller Entschlossenheit allem, was die Gesundheitsbehörden empfohlen haben sowie auch meinen eigenen besonderen Vorsichtsmaßnahmen, um diese tödliche Krankheit zu vermeiden.
Hygiene-Maßnahmen
Ich habe die Front meiner Zelle mit Plastik abgedeckt und die hintere Belüftungsöffnung verstopft. Ich weigere mich, für irgendwas herauszukommen oder das Plastik abzunehmen, noch nicht einmal, damit das medizinische Personal meine Vitalwerte messen kann. Ich sage oft: „Wenn ihr es aus 2 Metern Entfernung schafft, werde ich es tun.“ Alles, was in meine Zelle kam, habe ich mit Desinfektionsmittel abgewischt, und wenn ich es nicht abwischen konnte, steckte ich es für 3 Tage in „Quarantäne“ – Post und so. Das Essen, das ich erhielt, habe ich an den Rand des Bettes gelegt und geöffnet, mir zweimal die Hände gewaschen, das Essen in eine Schüssel gefüllt, die Essensbehälter in einen Beutel neben der Tür gelegt, mir wieder die Hände gewaschen und dann den Rand meines Bettes desinfiziert. Ich habe aufgehört, meine Wäsche nach draußen zu schicken, sondern sie selbst gewaschen. Ich habe nichts mehr von meinen Kumpeln angenommen, die mir oft versucht haben ihr Essen zu schicken, weil sie selbst nicht essen konnten, oder die mir eine Zeitschrift geschickt haben, die sie in der Post hatten. Wenn ich das Telefon benutze, desinfiziere ich es gründlich, dann ziehe ich einen Socken über den Hörer, während ich mit meiner Familie durch eine Maske spreche.
Heute, nach etwa 30 Todesfällen, Gesprächen mit denen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, sowie mit den Erfahrenen, die unter Spätfolgen leiden, halte ich meine Wachsamkeit aufrecht, auch nachdem ich 11 negative Testergebnisse erhalten habe, und um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, ob ich nur keine Symptome aufweise, Glück habe oder ob es aufgrund all meiner Bemühungen war, dass ich mich nie mit Covid-19 angesteckt habe. Wann es eine zuverlässige Impfung geben wird, ich weiß es nicht, aber ich weiß, wie ich mich sozial distanziere, meine Maske trage, meine Hände wasche, alles desinfiziere, das in meine Zelle kommt, und in „Quarantäne“ stecke, um von vorneherein zu vermeiden, dass ich mich anstecke.
Das Leben im Todestrakt ist wie eine Corona-Infektion
Wisst ihr, eine der Fragen, die mir am häufigsten gestellt werden, lautet: „Wie ist es, im Todestrakt zu leben ?“ Um ehrlich zu sein, ich wusste nie, was ich darauf antworten sollte, aber jetzt kann ich leicht sagen, es ist wie der Corona-Virus. Wird man positiv getestet, muss man sich selbst isolieren; dann die verschiedenen Symptome zu erleben, ist wie das täglich Leben im Todestrakt, es ist unangenehm, einsam und manchmal geradezu deprimierend. Ins Krankenhaus zu gehen und an Maschinen angeschlossen zu sein, ist wie in die Zelle der Death Watch gebracht zu werden zur Vorbereitung auf die Hinrichtung, während man hofft, dass die Anwälte einen Aufschub beim U.S. Supreme Court erreichen, damit man einen weiteren Tag leben kann. Und auf der Intensivstation ins Koma versetzt zu werden, das ist, als würde man in der Todeskammer mit einer mit Gift gefüllten Nadel im Arm auf die Liege geschnallt, betend, dass der Gouverneur anruft, um in letzter Minute eine Begnadigung auszusprechen, aber tief im Inneren weiß man, dies ist das Ende…
Ein Überlebender des East Block:
Joseph Kekoa Manibusan, im Oktober 2020