„Wer von euch ohne Schuld ist…“

… werfe als Erster den Stein…

An einem Wochenende an der Nordsee arbeitete ich als Coach auf einem Seminar (www.dalmanuta-prinzip.de) zum Thema Vergebung. Für den zweiten Seminartag bereitete ich meinen Vortrag vor. 

Als die Teilnehmer am späten Nachmittag aus der Pause kamen, fanden sie vor ihrem Platz einen Stein vor. In den Seminaren sitzen wir auf Bodenstühlen im Kreis. 

Es herrschte Stille und ich begann mit den Worten: 

„Ich möchte, dass alle hier wissen, dass ich euch sehr liebe. Ich habe viele Menschen verletzt und viele Menschen haben mich verletzt. Ich liebe euch alle so sehr. Das Leben endet hier nicht, es geht immer weiter. Ich musste die Lektionen des Lebens auf die harte Tour lernen. Eines Tages wird es nicht mehr nötig sein, Menschen zu verletzen. Ich liebe euch alle so sehr. Ich bin bereit zu gehen, aber ich werde zurückkommen. Gute Nacht zusammen. Ich bin fertig, Direktor.“

Dies waren die letzten Worte von Robert Pruett. Er wurde am 12 Oktober 2017 in Texas hingerichtet und verließ diese Welt mit 38 Jahren. 

Ich bin Daniela Steiner und Mitglied und zweite Vorsitzende der Initiative gegen die Todesstrafe. 

Ich habe meinen Kindern diese Worte einmal vorgelesen und anschließend gefragt, woran sie dabei denken mussten, was sie sich darunter vorstellen. Mein Sohn Pepe ist 13 Jahre alt und meine Tochter Marice ist 11 Jahre alt. Beide fragten mich, ob Jesus das gesagt hätte… Robert hätte sich bestimmt sehr darüber gefreut. 

Ich werde häufig gefragt, warum ich gerade diesen Menschen helfe. Überall auf der Welt wird Hilfe benötigt, warum gerade die? Dann folgt meistens das klassische Beispiel wie: „Was würdest du machen, wenn so einer dein Kind tötet?“ 

Aber was ist, wenn dieser „so einer“ dein eigenes Kind ist? Oder dein Bruder, dein bester Freund, oder dein Vater? Oder jemand, der dir sehr nahe steht?

Oder abgesehen von den USA. Stell dir vor, du lebst in einem anderen Land, und hier steht die Todesstrafe auf Drogendelikte, Homosexualität oder Ehebruch. In Afghanistan wurde beispielsweise vor kurzem eine Frau öffentlich hingerichtet. Sie wurde gesteinigt, weil ihr vorgeworfen wurde, sie hätte ihren Mann betrogen. 

Mehrere Mitglieder unseres Vereins sind homosexuell und setzen sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Letztendlich sind wir doch alle betroffen und nicht nur die anderen. 

Ein Leben zu nehmen, wenn ein Leben verloren wurde, ist Rache, keine Gerechtigkeit.

Robert ist mit 15 Jahren ins Gefängnis gekommen und wurde zu 99 Jahren verurteilt.

Mit 21 Jahren erhielt er die Todesstrafe…

Am 12. Oktober um 18:00 Uhr wurde er hingerichtet. Ich durfte das letzte Telefonat mit ihm führen. Er hat es sich gewünscht, musste es vorher beantragen und genehmigen lassen. 15 Minuten durften wir miteinander reden. Es war unser erstes und letztes Telefonat. 

In Texas werden die Hinrichtungen nicht im Gefängnis, wo der Todestrakt ist, durchgeführt, sondern in Huntsville. Eine ca. 45 Minuten Autofahrt. Robert hatte bereits 4 Hinrichtungstermine erhalten und jedesmal vorher einen Aufschub bekommen. Aufschübe erhält man in der Regel innerhalb von 14 Tagen vor dem Hinrichtungstermin. Bei einem erhielt er einen Last Minute Stay. Das bedeutet, dass er bereits nach Huntsville gefahren wurde und vom Obersten Gericht die Nachricht erhalten hat. Dies kann bis ein paar Minuten vor der Hinrichtung vorkommen und ist auch schon vorgekommen. Robert schrieb mir häufig von der Fahrt nach Huntsville. Man nahm ihm seine Brille ab, aber er berichtete mit großer Begeisterung von den grünen Wiesen und der unendlichen Weite. 

Robert Pruett

Robert war weise, und er war körperlich und geistig stark. Er war ein tiefsinniger Denker und darüber hinaus sehr spirituell. Ich habe nur wenige Menschen gekannt, die im Angesicht des Todes solchen Mut und solche Würde gezeigt haben. Robert hatte keine Angst vor dem Tod. Er glaubte nicht an den Tod, für ihn war er Illusion. Aber er hatte Angst davor, wie wir, die ihn lieben, nach seinem Tod damit umgehen würden. Und er hatte Angst vor Schmerzen, davor, dass etwas während der Hinrichtung schieflaufen könnte. Er träumte häufig davon…

Wir haben alle Angst vor irgendetwas. Angst ist nichts Schlimmes, doch das sollte uns nicht daran hindern, jeden Tag weiterzumachen. Wenn wir im Licht stehen, sollten wir keine Angst vor dem Schatten haben. Alles, was Schatten verursacht, ist viel kleiner als die Lichtquelle an sich. Vielleicht daher auch dieser bekannte Spruch: 

„Was dich nicht umbringt, kann dich stärker machen.“ Das wichtigste Wort in dem Satz ist „kann“. Ob du aus dem, was dich nicht umbringt gestärkt hervorgehst oder nicht, ist nicht vorgegeben. Du musst selbst dafür sorgen. 

Neben dem Tod gibt es weitere Dinge, die uns den Willen nehmen können, weiterzuleben. Dazu gehört beispielsweise die Verzweiflung. Nichts kann uns stärker lähmen als der Verlust der Hoffnung. Ich habe drei Männer bis zur Hinrichtung begleitet und alle hatten eines gemeinsam: Sie hatten bis zum Schluss Hoffnung. 

Erschöpfung kann Körper und Geist angreifen. Doch die Verzweiflung zielt voll auf die Seele. 

Die Möglichkeiten sind die Kinder der Hoffnung. Es ist jene mysteriöse Kraft, die das Leben selbst ist. Jene Kraft, die uns das Leben gibt, um damit fertig zu werden. Das Leben ist dazu da, gelebt und nicht vermieden zu werden. Es hat auch zwei Gesichter, und das eine ist nicht weniger real als das andere. 

Es gibt Großzügigkeit und Habsucht. Es gibt Liebe und es gibt Hass. Frieden und Krieg. Hoffnung und Verzweiflung. Sieg und Niederlage. Die Geburt und den Tod.  Das ist das Leben, es ist, wie es ist.

Wo und wann du auf diese Welt gekommen bist, kann nicht verändert werden. Auch hast du nicht darum gebeten, geboren zu werden, oder kannst dich zumindest nicht daran erinnern, aber du bist hier. Verschwende also keine Zeit und Mühe damit, dich danach zu sehnen, es hätte anders sein sollen. Verfluche es nicht, mache es vielmehr zu deiner Stärke.

Du hast Stärken und Schwächen. 

In dir schlägt das Herz, das Mitgefühl hat, genauso, wie es rücksichtslos sein kann. In dir ist der Wille, sich dem Leben zu stellen, wie auch die Angst, davor davonzulaufen.

Das Leben hat dir Stärken gegeben. Du musst dich im Sturm behaupten. Er versucht nicht dich umzublasen, sondern in Wahrheit versucht er dich Stärke zu lehren. 

Starksein bedeutet, an der Hoffnung festzuhalten.

Wir sterben bei einem Unfall, durch Krankheit, im Krieg, an Altersschwäche, durch Fremdeinwirkung oder durch unsere eigene Hand. Die Art unseres Todes bildet oft die Grundlage des Urteils, welches andere über uns haben. Meiner Ansicht nach sollten wir nach unserer Lebensweise beurteilt werden. 

Robert war ein guter Mensch. Seine Hinrichtung hat diese Welt nicht verbessert. Keine Hinrichtung verbessert unsere Welt. Ein Hinrichtung erzeugt nur neues Leid. Robert hatte Mutter und Vater, einen Bruder. Er hatte mich…

Ich möchte keine Kraft mehr verschwenden, mich mit der Art seines Todes zu quälen, stattdessen möchte ich seine Lebensweise feiern. Genau das und nur das ist sein Erbe. 

„Ich möchte, dass alle hier wissen, dass ich euch sehr liebe. Ich habe viele Menschen verletzt und viele Menschen haben mich verletzt. Ich liebe euch alle so sehr. Das Leben endet hier nicht, es geht immer weiter. Ich musste die Lektionen des Lebens auf die harte Tour lernen. Eines Tages wird es nicht mehr nötig sein, Menschen zu verletzen. Ich liebe euch alle so sehr. Ich bin bereit zu gehen, aber ich werde zurückkommen. Gute Nacht zusammen. Ich bin fertig, Direktor.“

Nach einem kurzen Moment der Stille stand ich auf und ging in die Mitte des Raumes. 

„Ich, Daniela, gebe zu, dass ich Menschen emotional verletzt habe.“

Peter Michael Dieckmann, der Seminarleiter, sprach aus dem Hintergrund laut die Worte: „Wer von euch frei von Schuld ist, werfe als Erster den Stein.“ 

Ich wartete etwas ab und forderte anschließend den ersten Teilnehmer auf, dasselbe zutun. Und so stand nacheinander jeder einzelne Teilnehmer in der Mitte des Seminarraumes und gab zu, einen oder mehrere Menschen emotional verletzt zu haben, und Peter und ich wechselten uns ab: „Wer von euch frei von Schuld ist, werfe als Erster den Stein.“  

Es war eine sehr intensive und heilsame Übung. Am Ende hat jeder Teilnehmer seinen Stein in die Mitte gelegt und dazu lief das Lied „Please forgive me“ von Bryan Adams. 

Ich hatte ein sehr erfülltes Wochenende. Es ist eine wundervolle Arbeit und ich danke Robert, dass er mich bei allem vom Himmel aus so sehr unterstützt.

Daniela Steiner
Initiative gegen die Todesstrafe e.V.

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