Hinrichtungsablauf
Hinrichtungsmethoden in den USA
Die am häufigsten angewandte Exekutionsmethode in den USA ist die tödliche Injektion, mit der Texas 1982 erstmals exekutierte. Bis zum Jahr 2008 hatte der Staat Nebraska als letzter mit dem elektrischen Stuhl eine andere Hinrichtungsmethode. Diese wurde für verfassungswidrig erklärt, weshalb der Staat ab 2009 ebenfalls die tödliche Injektion als Exekutionsmethode eingeführt hat.

Die tödliche Injektion („lethal injection“) ist somit in allen US-Bundesstaaten, die die Todesstrafe haben, die vorgesehene Exekutionsmethode. In einzelnen US-Staaten könnten jedoch elektrischer Stuhl, Gaskammer, Erschießungskommando oder Strang wieder Gültigkeit erlangen, sollte die tödliche Injektion einmal für verfassungswidrig erklärt werden. Teilweise besteht Wahlmöglichkeit für die Hinzurichtenden (z. B. zwischen „chemical lethal injection“ und „gas lethal injection“) und in seltenen Fällen wählen Verurteilte die zuvor in dem jeweiligen Staat vorgesehene Methode.
Die einzelnen Hinrichtungsmethoden im Detail:
Bei der Hinrichtung durch die tödliche Injektion werden in der klassischen Variante nacheinander drei intravenöse Injektionen, bestehend aus dem Barbiturat Natrium-Thiopental (Betäubungsmittel, mit dem eine Bewusstlosigkeit erreicht wird), Pancuroniumbromid als Muskelrelaxantium (Lähmung der Muskulatur und somit auch der Atmung) und Kaliumchlorid, das eine Depolarisierung des Herzens (Herzstillstand) bewirkt, verabreicht. Seit einigen Jahren gibt es Lieferengpässe, was die Medikamente betrifft, sodass einige Staaten zu Pentobarbital als einzigem Mittel übergegangen sind oder andere Kombinationen ausprobiert haben.
Vor Beginn der Exekution und zwischen dem Verabreichen der einzelnen Chemikalien wird jeweils Kochsalzlösung injiziert, um eine Reaktion der Chemikalien aufeinander zu vermeiden.

Einige Staaten injizieren im Vorfeld der Exekution ein Antihistamin, um eine allergische Reaktion auf die Chemikalien zu vermeiden.
Eine Reihe von Ärzten hat bereits Befürchtungen geäußert, dass die Drogen nicht richtig wirken, falls der Betreffende Diabetiker ist oder Drogen konsumierte und seine Venen schwer zu finden sind. Bei einer früheren Drogenkarriere eines Verurteilten kann auch das Barbiturat zu schwach wirken und die nachfolgende Tötung für den Gefangenen sehr schmerzhaft sein.
Die Elektroden werden am Kopf und an den Beinen des Gefangenen befestigt. Mit Einschalten des Stromes schießt der Körper des Verurteilten nach vorne gegen die Ledergurte, die ihn an den Stuhl fesseln.
Die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl (Elektrocution), bei der zwischen 500 und 2000 Volt durch den Körper des Verurteilten geschickt werden, hat sichtbare zerstörende Wirkungen.

Innere Organe und Gewebe werden verbrannt. Der Darm des Gefangenen kann sich entleeren, er kann urinieren oder Blut erbrechen. Der Körper verändert die Farbe, das Fleisch schwillt an und Haut und Haare können Feuer fangen.
Die Körpertemperatur steigt auf bis zu 60° C an, und um feststellen zu können, ob der Tod eingetreten ist, muss der Körper des Verurteilten erst einmal abkühlen.
Zeugen berichten stets, dass ein Geruch nach verbranntem Fleisch entsteht.
Es ist nicht bekannt, wie lange Menschen auf dem elektrischen Stuhl noch bei Bewusstsein sind. Die Hinrichtungsmethode könnte also für den Verurteilten sehr schmerzhaft sein.
Der Verurteilte wird in eine hermetisch abgeschlossene Stahlkammer gesperrt. Auf ein Signal des Henkers hin öffnet sich ein Ventil, aus dem Salzsäure in eine unter dem Sitz des Gefangenen befindliche Mulde fließt. Nach einem weiteren Signal fallen etwa 230 Gramm Zyankalikristalle oder –kapseln in die Säure. Das entstehende Blausäuregas, das leichter als Luft ist und langsam nach oben steigt, verhindert die Bildung von Hämoglobin im Blut. Atemlähmung ist die Folge.
Diese Exekutionsmethode erfordert eine Mitarbeit des Verurteilten, um die Qualen zu verringern. Er muss tief einatmen, um eine schnelle Bewusstlosigkeit zu erreichen. Hält er die Luft immer wieder an, dauert der Todeskampf mehrere Minuten.
Nachdem der Gefangene für tot erklärt wurde, reinigen Filter die Stahlkammer von Gasrückständen. Unter Gasmasken entgiftet ein Team den toten Körper mit einer Bleichlösung und entgast ihn. Würde das nicht geschehen, könnte ein nichts ahnender Leichenbestatter ebenfalls getötet werden.
Das zur Exekution verwendete Blausäuregas ist identisch mit Zyklon-B, welches während des Holocaust zur Tötung in Konzentrationslagern verwendet wurde.
Vor der Hinrichtung wird der Verurteilte gewogen. Der ‚Fall‘ hängt von seinem Gewicht ab, damit 1.260 foot-pounds auf den Hals einwirken. Dadurch wird ein nahezu sofortiger Tod und ein Minimum an Blutergüssen gewährleistet sowie Strangulation (langsames Ersticken) oder Enthauptung ausgeschlossen.
Wird das Erhängen ordnungsgemäß ausgeführt, verursacht eine gewaltsame Trennung des dritten oder vierten Halswirbels den Tod.
Ist der Fall in die Schlinge jedoch zu kurz, stirbt der Gehängte einen langsamen und qualvollen Tod durch Ersticken; ist er zu lang, wird der Kopf abgetrennt.

Gewöhnlich wird die Wicklung des Seils hinter dem linken Ohr des Verurteilten platziert, damit der Hals nach dem Fallen zur Seite knickt.

Es existiert kein Protokoll über das Verfahren.
Informationen zufolge besteht das Exekutionsteam aus 5 Personen. Der Verurteilte wird an einen Stuhl gefesselt und mit einer Kopfhaube bedeckt. Eine Zielscheibe wird auf seiner Brust befestigt. Eine der Schusswaffen enthält angeblich eine Platzpatrone, damit keiner der Schützen weiß, wer einen tödlichen Schuss abgibt.
Seit Wiedereinführung der Todesstrafe wurden drei Personen auf diese Art hingerichtet, Gary Gilmore 1977 und John Taylor 1996. Taylor stellte damit den Staat Utah vor ein Problem, da dieser negative Publicity für die anstehenden Olympischen Spiele befürchtete. 2010 wählte Ronnie Gardner das Erschießungskommando für seine Hinrichtung.
Diese Hinrichtungsmethode birgt große Probleme, da die Gefahr besteht, dass Mitglieder des Exekutionsteams absichtlich vorbeischießen, um nicht schuld am Tode des Verurteilten zu sein.
Zeugenberichte zu Hinrichtungen
Todeshaus
Leicht gekürzte deutsche Fassung des Artikels „Death house: Huntsville observes a grim timetable“ von 2003 aus Star-Telegram.com, in dem die Hinrichtungen von Jonathan Nobles (1998), Robert Excell White (1999), Lloyd Henry (2003) und anderen in Huntsville, Texas, beschrieben werden.
Es berichten Pressezeugen, Justizangestellte, Aufseher, die zahlreiche Hinrichtungen geleitet haben, und andere über ihre Erfahrungen mit dem Vollzug der Todesstrafe in Amerikas beschäftigstem Todeshaus.
Huntsville – Als er angeschnallt auf der Bahre lag und das Gift in seine Venen strömte, fing der Gefangene an zu singen: „Si-i-lent night…“
Mike Graczyk stand hinter einem geschlossenen Plexiglasfenster und machte Notizen. Als Teil seines Berufs hat der Associated-Press-Reporter aus Houston mehr als 200 Hinrichtungen mit der Giftspritze gesehen.
Jede Hinrichtung ist effizient, sauber, schnell.
Unvergesslich.
„Es ist Weihnachten. Du nimmst an der Mitternachtsmesse teil und jeder um Dich herum singt ‚Stille Nacht‘ und jeder genießt den Moment“, sagt Graczyk.
Aber immer, wenn er dieses Lied hört, ist wieder der 7. Oktober 1998. Graczyk sieht die türkisfarbene Wand der Todeskammer. Er sieht den Aufseher, den Geistlichen. Das bleiche Gesicht des Doppelmörders, grell beleuchtet von fluoreszierenden Lampen, die Arme ausgebreitet, ein Kreuz formend.
Jonathan Nobles, 37, singt, ein Mikrophon über seinen Lippen. „Moth-er and child …“
Das sind die letzten Worte des Mörders.
Weihnachten kommt einmal im Jahr, aber Verbrechen und Todesstrafe in Texas gehen weiter. Diese Woche sollen drei weitere verurteilte Mörder die 40 Meilen vom Todestrakt in Livingston zum Staatsgefängnis in Huntsville transportiert werden, ein rotes Backsteingebäude, bekannt unter dem Namen „The Walls“.
Dienstag: Billy Frank Vickers, 58.
Mittwoch: Kevin Lee Zimmerman, 42.
Donnerstag.: Bobby Lee Hines, 31.
Jim Willet, ein früherer Aufseher von Amerikas beschäftigstem Todeshaus, ist ein höflicher Mensch von angenehmer Erscheinung.
Der silberhaarige Familienmensch leitete zwischen 1998 und 2001 89 Exekutionen, darunter war auch eine Frau, Betty Lou Beets.
Über die Todesstrafe sagt Willet: „Nach der letzten Umfrage, die ich gesehen habe, hat sie eine Unterstützung von 84%. Ich glaube nicht, dass sie sie jemals abschaffen in Texas, außer der Supreme Court zwingt uns. Texaner sagen im Grunde, da gibt es bestimmte Dinge, wenn Du die tust, werden wir Dich finden und töten. So ist das nun mal.“
Eine Stadt und ihr Gefängnis
„Ob du für einen Tag kommst oder fürs ganze Leben, wir freuen uns, dass du hier bist“, sagt die Website des Huntsville-Walker-County Chamber of Commerce.
Huntsville, die kleine Universitätsstadt 70 Meilen nördlich von Houston, 35000 Einwohner, ist Heimat der Sam Houston Universität und des Texas Department of Criminal Justice, des größten Arbeitgebers in der Stadt.
Hershey, Pa, ist bekannt für Schokolade. Huntsville ist Synonym für Gefängnis und Hinrichtungen.
Das Besucherzentrum bietet einen Plan für eine Besichtigungstour zu den sieben Gefängnissen in der Region an, eingeschlossen das älteste und berühmteste, das fast im Stadtzentrum liegt.
Seit 1924 wurde jede Hinrichtung in Texas – insgesamt 674 – hinter diesen 10 Meter hohen Mauern vollzogen.
Gegenüber dieses 154 Jahre alten Gebäudes auf der anderen Straßenseite gibt es einen kleinen Hamburgerstand. Ein Schild preist den „Killer Burger“ an, ein 4.25 $ Sandwich mit doppelter Portion Fleisch und Käse und Jalapeno Pfeffer.
Eins von Huntsvilles 5 Museen verzeichnete 23.000 Besucher im letzten Jahr. Das Texas Prison Museum beherbergt unter anderem eine Kugelfußkette, historische Photographien und Waffen, die von Gefangenen konfisziert wurden.
Die „Mona Lisa“ des Museums ist „Old Sparky“, der elektrische Stuhl von Texas. Gebaut von Gefängnisinsassen, sieht die hoch aufgestellte Reliquie aus wie ein mittelalterlicher Thron.
Eine Absperrung trennt die Besucher von dem Gerät aus poliertem Eichenholz. Das hat einige Besucher nicht davon abhalten könne, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, auf dem 361 Menschen starben. Der Stuhl ist inzwischen mit einem Alarm ausgestattet.
Willet, 54, ist der Museumsdirektor. Jeden Tag ist er dankbar, aus dem Hinrichtungsgeschäft raus zu sein. „Ich versuchte sie so gut zu behandeln, wie sie mich ließen. Ich habe sie nicht verhätschelt, aber ich habe versucht, ihnen einen anständigen letzten Tag zu geben“, sagte Willet. „Es war nie einfach. Ich selbst habe es niemals so sehen können, dass es eben einfach nur als ein Stück Arbeit ist. Ich würde es niemandem wünschen.“
Im Jahre 2000 leitete Willet 40 Hinrichtungen, die meisten Hinrichtungen, die je ein US- Staat in einem Jahr durchgeführt hat in der Geschichte der USA. Sieben Häftlinge wurden in nur 16 Tagen getötet. Dieser Monat habe ihn emotional ausgelaugt, sagt Willet.
Wie mancher andere mit dieser grausamen Aufgabe Betraute fragte sich der Aufseher manchmal, was der Staat da tut im Namen der Gerechtigkeit.
„Ich verstehe, warum Leute sagen, wir brauchen das, und warum andere sagen, es ist nicht richtig“, sagt Willet über die Todesstrafe. „Ich frage mich, warum wir so viel mehr Exekutionen haben als andere. Ich weiß es nicht.“
In Texas sind mit der Todesstrafe bedroht: die Ermordung eines Polizei- oder Feuerwehrbeamten; Mord im Zusammenhang mit einer Entführung, einem Einruch, Raub, Sexualdelikt, Brandstiftung, Verdeckung eines Verbrechens oder Vergeltung; Mord für Bezahlung; Mord während eines Gefängnisausbruchs, Ermordung eines Justizangestellten, Mord, begangen von einem zu lebenslänglich verurteilten Häftlings, der für eines der folgenden Verbrechen verurteilt wurde: Mord, Mord mit einem erschwerenden Faktor, schwere Fälle von Entführung, schwere Vergewaltigung oder schwerer Raub; mehrere Morde; die Ermordung einer Person, die jünger als 6 Jahre alt ist.
36 % der 65 Hinrichtungen in den USA in diesem Jahr fanden in Huntsville statt.
Am Hinrichtungstag würde Aufseher Willet sehen, dass der Gefangene eine letzte Mahlzeit erhält, bestellt zwei Wochen im voraus. Zubereitet in der Gefängnisküche, erhält es der Gefangene zwei Stunden bevor ihm gesagt wird: „Es ist Zeit.“
Cheeseburger ist das beliebteste Gericht. Manche ordern Steak, Shrimps, Pommes. Willet war überrascht, welche Menge Essen manche Gefangenen zu sich nehmen konnten.
Ein Gefangener wollte nur ein Glas Dillgurken. Viele wollen nichts.
Michelle Lyons ist die Beauftragte des Gefängnissystems für Öffentlichkeitsarbeit und frühere Reporterin des Huntsville Item. Sie fragte einmal einen Gefangenen, warum er keine letzte Mahlzeit verlangte.
„Er sagte mir, es scheint mir falsch, irgendetwas zu nehmen von jemandem, der letztendlich vorhat Dich zu töten.“
Am Ende entschuldigen sich viele Gefangenen bei den Opferfamilien und bitten um Vergebung. Einige beteuern ihre Unschuld. Manche wollen ihren Lieben Good-bye sagen, andere wollen nicht, dass ihre Angehörigen sie sterben sehen.
Manche machen ihren letzten Atemzug, ohne dass Angehörige oder Freunde anwesend wären. Beerdigt vom Staat ruhen ihre Leichen auf dem Gefängnisfriedhof unter kleinen weißen Kreuzen. Manche gehen leise. Einige führen einen Kampf. Poncai Wilkerson war für Raubmord an einem Angestellten eines Juwelierladens verurteilt worden. Am Tag seiner Hinrichtung erzählte er Gefängnisbesamten, er hätte eine Überraschung. In einem letzten Akt des Widerstands, der jeden überraschte, spuckte Wilkerson einen Handschellenschlüssel aus, als er starb.
Nach den letzten Worten setzte Willet seine Brille ab, sein subtiles Signal an den unsichtbaren Henker, zu beginnen.
„So hat es mein Vorgänger auch gemacht“, sagt Willet „Ich hab’s auf diese Weise gemacht fast bis zum Ende. Später habe ich ein kleines elektrisches Gerät bekommen. Du drückst auf einen Knopf und da ist ein anderes elektrisches Gerät und das Licht kommt an.“
„Ich veränderte das, nachdem ich mit einem Verurteilten gesprochen habe. Er sollte hingerichtet werden. Eins der letzten Dinge, worüber wir sprachen, wie das mit den letzten Worten ist und woran ich merke, wann es zu Ende ist. Ich wollte ihnen nicht das Wort abschneiden, wenn sie noch was zu sagen haben. Aber ich erzählte ihnen, sie sollten es in drei oder vier Minuten sagen. Als ich diesen Gefangenen fragte, woran ich merke, dass er fertig ist, sagte er: ‚Aufseher, ich werde Ihnen sagen, Sie können Ihre Brille jetzt absetzen.‘ Er kannte das Signal.“
1974 gestand Robert Excell White die Ermordung von drei Männern mit einem Maschinengewehr in einem Lebensmittelgeschäft in der Nähe von McKinney. Der frühere Automechaniker und zwei Komplizen nahmen 6 $ aus der Kasse und 60 $ aus den Brieftaschen der Opfer.
Die durchschnittliche Zeit, die ein Gefangener im Todestrakt verbringt, ist 10,5 Jahre. White war in Einzelhaft für die Rekordzeit von 24 Jahren – 8982 Tagen -, bevor er dem Aufseher in die Hinrichtungskammer folgte – ohne Fesseln am 30. März 1999.
Als das 5 Mann starke Festschnallteam White mit 8 Lederriemen auf der Todesliege fixierte, bemerkte Willet die Schuhe des Gefangenen. Glänzendes, glattes Leder. Sie sahen aus wie neu. Aber die Sohle erschien dünn wie Papier. „White, wo hast Du diese Schuhe her?“, fragte Willet.
Der 61 Jahre alte Gefangene sagte, das seien dieselben Schuhe, die ihm an dem Tag gegeben worden seien, an dem er verurteilt und in den Todestrakt geschickt worden war. „Ich habe richtig gut für sie gesorgt“, sagte er stolz.
Hatte der Mörder ein letztes Statement?
„Schicke mich zu meinem Schöpfer, Aufseher“, sagte White. Willet nahm seine Brille ab.
Der Stundenplan
Am Donnerstagnachmittag, 20. November, steht Thomas Renfro auf dem Bürgersteig vor dem Café Texan, das ihm seit den 1970ern gehört. Renfro, 64, wuchs auf in Huntsville. „Wenn Du Leuten erzählst, dass Du von hier kommst, sagen sie: ‚Oh, das ist da, wo das Staatsgefängnis ist. Wann lassen sie Dich raus?'“
Heute ist einer dran. Die meisten Hinrichtung sind keine Meldungen für die erste Seite. An diesem Tag veröffentlichte der „Huntsville Item“ einen zweispaltigen Artikel auf Seite 3: „Wenn es keinen Aufschub in letzter Minute gibt, wird ein Mann, der dafür verurteilt wurde, die Mutter und Großmutter seines Freundes in ihrem Haus nahe Corpus Christi zu Tode geschlagen und erstochen zu haben, der 22. Insasse sein, der in diesem Jahr in Texas hingerichtet wird.“
Robert Lloyd Henry schlug ein Opfer so heftig, dass ein Nachbar sie nur an ihrem Schmuck und ihrer Kleidung identifizieren konnte, berichtete das Büro der Generalstaatsanwalts von Texas. Zwei Monate nach der Tat ging Henry zur Polizei und legte ein Geständnis ab.
Fünf Stunden vor der Hinrichtung verlässt Lyons ihr Büro und überquert die Straße zur Walls Unit. Als Teil ihres Jobs informiert sie die Reporter über das Verhalten des Gefangenen. Sie findet den bebrillten Gefangenen sitzend auf der Schlafkoje in seiner Zelle.
Lyons fragt Henry, ob er vorhat, letzte Worte zu sagen. „Diese Unterhaltung ist der härteste Teil meiner Arbeit“, sagt sie. „Ich meine, was sagst Du? ‚Hallo. Wie geht’s?‘ Da gibt’s nichts, was Du sagen kannst. Normalerweise sind die Gefangenen friedlich und freundlich. Manche scheinen sich fast zu freuen auf ihre Hinrichtung, weil sie nicht mehr hinter Gittern leben wollen.“
„Ein Mann war ein alter Biker. Er war es gewöhnt, auf der offenen Straße zu sein. Er freute sich auf seine Hinrichtung. Als seine Zeit gekommen war, fing er an zu singen, Robert Earl Keens ‚The road goes on forever, the party never ends’…“
Kenneth Allen McDuffs letzte Worte waren: „Ich bin bereit, befreit zu werden. Befreit mich.“
Henry, 41, erzählte Lyons, dass er endlich befreit würde, von „diesem alten zerbrochenen Ding“, womit er seinen Körper meinte. Viele Gefangene sind mental abgespalten von ihrem Körper. Sie beziehen sich auf ihren Körper und verlassen ihn als „Es“.
„Anders als Du oder ich wissen sie genau, wann sie sterben werden“, sagt Lyons. „Sie hatten lange Zeit darüber nachzudenken. Sie hatten Zeit, sich vorzubereiten, so gut es ihnen möglich war.“
Kurz vor 18:00 Uhr klingelte Lyons Bürotelefon.
Sie eskortierte Graczyk und drei andere Medienzeugen ins Gefängnis, wo sie von Gefängnisangestellten durchsucht werden. Zwei Reporter werden die Hinrichtung mit den Angehörigen der Opfer betrachten. Zwei werden den Angehörigen des Gefangenen in einen separaten Raum folgen.
Danach befragt Graczyk oft die Angehörigen des Opfers über die tödliche Injektion.
Deren Sohn oder Tochter oder wer auch immer starb einen furchtbaren Tod, manchmal einen quälend in die Länge gezogenen Tod. „Jetzt schläft dieser Kerl in ein paar Sekunden ein und wacht nicht mehr auf“, sagt Graczyk. „Ich frage sie: ‚Stört Sie das? Ist das fair?'“
In ihrem Zorn und ihrer Trauer sagen manche, dass die Nadel zu einfach sei.
18:01 Uhr: Henry verlässt die Überwachungszelle
18:03 Uhr: Das Festschnallteam befestigt ihn auf der Stahlbahre.
18:05 Uhr: Kochsalzlösung beginnt in seine Arme zu fließen
18:10 Uhr: Nachdem die Zeugen durch einen schmalen Hof in einen der beiden Zuschauerräume gegangen sind, erhält Aufseher Neill Hodges den Befehl fortzufahren und fragt den Gefangenen, dessen Kopf auf einem Kissen liegt, ob er noch etwas sagen möchte.
„No, Sir“, erwidert Henry.
Er schaut kein einziges Mal in Richtung der Angehörigen der Opfer.
Gekleidet in weiße Gefängniskleidung, dreht Henry den Kopf in Richtung des Raums, in dem sich sein Bruder, seine Schwester, seine Tante und drei Freunde gedrängt haben.
Er formt den Mund zu einem Kuss und sagt: „Bye bye“ und „I love you.“
Dann: „Here I go.“
18:11 Uhr: Während Kaplan Thomas Cole eine Hand auf Henrys rechtes unteres Bein legte, verabreichte der anonyme Henker das Sedativ Natrium-Thiopental. Pancuroniumbromid lässt Henrys Zwerchfell und Lunge kollabieren. Geräuschvoll stößt der Killer einen letzten Atemzug aus. Kaliumchlorid stoppt sein Herz.
18:15 Uhr: Aufseher Hodges, bekleidet mit Jackett und Krawatte, steht in der Stille des Raums nahe am Kopf der Liege – warten, warten…
18:18 Uhr: Ein Arzt betritt den 3 mal 4 Meter großen Raum. Er leuchtet mit einer Lampe in die leeren Augen des Mörders und hört mit dem Stethoskop nach einem Herzschlag. Er schaut auf seine Uhr. „6:19“, verkündet der Doktor. „6:19“, wiederholt der Aufseher.
Nachdem die Zeugen hinausgeführt worden sind, legt der Aufseher ein weißes Tuch über das bleiche Gesicht des Toten.
Eine höhere Macht
Um 18:30 Uhr steht eine Kindergärtnerin aus Houston an einer dunklen Straßenecke außerhalb des Gefängnisses mit einem Mikrophon in ihrer Hand. Ihre Empörung erfüllt die abendliche Luft.
„Robert Henry hätte niemals hingerichtet werden dürfen! – In dieser Urlaubssaison ist er ermordet worden durch die Hand des Staates!“
Gloria Rubac weiß nicht, wie viele Mahnwachen gegen Hinrichtungen sie schon mitgemacht hat. „Mindestens 100“, sagt sie.
Rubac hat sie nicht gezählt. Ebenso wenig wie Lyons. „Die Leute fragen mich, wie viele ich gesehen habe. Ich sage ihnen, dass ich es nicht weiß. Manche denken, das sei gefühllos. Wenn ich die genaue Zahl wüsste, würde es sich für mich anhören, als würde ich jedes Mal eine Kerbe in meinen Schreibtisch schnitzen.“
Rubac half ein Treffen am 7. Dezember 1982 zu organisieren, als Charlie Brooks aus Tarrant County als erste Person in Amerika mit der Giftspritze hingerichtet wurde. Sie war da in der Nacht als Karla Faye Tucker „Good-bye“ sagte.
Auf dieser Reise brachte Rubac die Krankenschwester Lee Balton mit. Lee Balton ist die Mutter von Nanon Williams, der in Houston im Alter von 17 Jahren wegen Mordes verurteilt wurde. Ihr Sohn hat 12 Jahre im Todestrakt zugebracht.
„Nanon war in einen Drogendeal verwickelt. Er war kein Engel“, sagt Bolton. „Jemand wurde erschossen. Aber die Kugel war nicht aus diesem Gewehr.“
Bolton versucht, ein neues Verfahren zu erreichen. Aber für den Moment legt sie das Schicksal in die Hand einer Macht, die größer ist als das Justizsystem und höher als der Staat. „Ich habe Jesus“, sagt sie. „Ich habe einen Gott, der größer ist als all das. Wir werden ihm alle eines Tages begegnen.“
Erinnerung an die Opfer: Mitzi Nalley, 21, und Kelly Farquhar, 24, schliefen 1986 in ihrem Haus in Nord-Austin, als Jonathan Nobles in das Haus einbrach und sie und Ron Ross, Nalley’s Freund, angriff. Auf Ross wurde 19mal mit einem Messer eingestochen. Er verlor ein Auge, aber überlebte. Nobles sagte, er tötete die Frau im Drogenrausch. Preston Broyles, 73, Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts in Princeton, und seine beiden 18-jährigen Kunden Gary Coker und Billy St. John, wurden 1974 mit einem Maschinengewehr erschossen. Sie wurden getötet von Robert White während einer Tour, die am Tag davor in Waco begann, als er den Waffensammler Roy Perryman erstach und ein Maschinengewehr und verschiedene andere Waffen stahl. Adonius Collier wurde 1992 während eines Drogendeals erschossen im Hermann-Park in Houston. Nanon Williams wurde verurteilt, geschossen zu haben, aber aufgrund ballistischer Untersuchungen kamen später Zweifel auf, ob er wirklich geschossen hat oder ob die Schüsse aus der Waffe von Williams‘ Komplizen stammten. Hazel Rumohr, 83, und ihre Tochter, Carol Arnold, 57, wurden geschlagen, erstochen und aufgeschlitzt in ihrem Haus nahe Corpus Christi im Jahre 1993. Arnold wurde so heftig geschlagen, dass ein Nachbar sie nur noch anhand ihres Schmucks und ihrer Kleidung identifizieren konnte.
(Übersetzung: Matthias Wippich – Korrektur: Gabi Uhl)
Zeugin einer Hinrichtung: Gabi Uhl
Gabi Uhl, Mitglied der Initiative gegen die Todesstrafe e.V., war Zeugin der Hinrichtung ihres Brieffreundes Clifford Boggess, der am 11. Juni 1998 hingerichtet wurde. Sie hat ihre Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle rund um die Hinrichtung sehr eindrücklich beschrieben:
11. Juni 1998, 18.21 Uhr: Häftling Nr. 887 wird für tot erklärt
Die Akten des TDCJ (Texas Department of Criminal Justice) geben Auskunft über seine letzte Mahlzeit: 2 doppelte Cheeseburger, Salat, Pommes Frites, 1 Liter eisgekühlte Pepsi, Chocolate-Brownies, 1 Becher Blue-Bell-Ice-Cream – und ein Stück Geburtstagskuchen. Die 153. Hinrichtung im US-Bundesstaat Texas seit Wiedereinführung der Todesstrafe trifft an seinem 33. Geburtstag

Clifford Boggess
…
Die Hinrichtung
Der erste schwere Teil des Tages war mittags vorüber: der Abschied von Cliff nach unserem letzten Besuch, ein Abschied nicht ohne Tränen, aber ohne die Möglichkeit, einander auch nur die Hand zu reichen. Sogenannte Kontaktbesuche gibt es nicht für Todeskandidaten in Texas; immer war Glas und Gitter zwischen uns. Erst Tage oder Wochen später hatte ich zu Hause den Gedanken, ob ich nach Cliffs Hinrichtung in das Leichenschauhaus von Huntsville hätte gehen sollen. Es wäre meine einzige Chance gewesen, Cliff einmal ohne Drahtgitter und Glas zwischen uns zu sehen.
Am Nachmittag suchte uns der zuständige Gefängnispfarrer, Chaplain Brazzil, auf, teilte uns zunächst mit, dass es Cliff gut ginge, er uns grüßen und ausrichten ließe: „Remember: TODAY…“, und erklärte uns dann in allen Einzelheiten, was auf uns als Zeugen der Hinrichtung zukäme. Es war sicher wichtig für uns, so gut wie möglich vorbereitet zu sein, allerdings begann an dieser Stelle für mich ein Gefühl, das mich bis zum Schluss nicht mehr verließ: Alles wirkte wie ein Ritual, jeder Schritt und Handgriff war bis in alle Einzelheiten vorausgeplant. Es war das Empfinden, diese Situation müsse absolut irreal sein, und gleichzeitig das klare Bewusstsein, sehr wohl zu wissen, dass dies wirklich geschieht und kein böser Traum ist.
Kurz nach 17.00 Uhr fuhren wir weisungsgemäß an der Rückseite des Verwaltungsgebäudes vor, wurden dort von zwei Bodyguards in Empfang genommen, die von nun an bis zum Schluss nicht mehr von unserer Seite wichen, wurden in einen Raum geführt und verbrachten dort den größten Teil der Zeit mit Warten. Für einen Pat-Search (Durchsuchung durch Abtasten) wurden wir von weiblichen Beamten in einen anderen Raum geführt, denen ihre Aufgabe allerdings nicht sonderlich angenehm zu sein schien, weshalb sie sie relativ oberflächlich durchführten. Im Stockwerk über uns, erfuhren wir, befanden sich zwei Angehörige von Cliffs Opfern, um der Hinrichtung als Zeugen beizuwohnen. Es wurde peinlichst darauf geachtet, dass beide „Parteien“ sich nicht über den Weg laufen konnten.
Es muss um 18.00 Uhr herum gewesen sein, als man uns – vorbei an ein paar Fernsehkameras und wenigen Demonstranten – den kurzen Weg über die Straße in das gegenüberliegende Gebäude, die Walls Unit, in der die Exekutionen durchgeführt werden, eskortierte. In einem Büroraum mussten wir erneut fünf oder zehn Minuten warten, bis wir schließlich in den Zeugenraum geführt wurden. Ich weiß nicht mehr, ob nur meine Knie vor Angst zitterten oder mir das Herz bis zum Hals schlug. Der Zeugenraum ist so klein, dass keine Stühle darin stehen; nebenan, durch eine Wand links von uns getrennt, befinden sich die Angehörigen der Opfer. Zu viert – drei Freunde Cliffs und sein geistlicher Beistand, ein Franziskanerpater, (von Cliffs Familie war niemand da) – stehen wir eng gedrängt unmittelbar vor einer Glasscheibe, hinter uns die Bodyguards und wohl auch noch ein paar Reporter, die ich gar nicht wahrgenommen habe. Vor uns der Hinrichtungsraum mit seinen blau gestrichenen Wänden, so, wie wir ihn schon wiederholt auf Bildern oder im Fernsehen sahen, aber in Wirklichkeit ist er viel kleiner, als er auf Bildern wirkt. Buchstäblich zum Greifen nah – wenn das Glas nicht wäre – liegt Cliff vor uns auf der Liege, festgeschnallt mit unzähligen Gurten – nur den Kopf kann er leicht drehen -, die Arme mit den Infusionsnadeln ausgestreckt, die Hände völlig umwickelt, bereit für die tödliche Injektion, bereit eingeschläfert zu werden, wie man einen alten oder kranken Hund einschläfert. Zu seinen Füßen steht der Gefängnispfarrer, eine Hand auf Cliffs Bein. In diesem Moment empfinde ich die Menschheit als unglaublich überheblich, weil hier Menschen im vollen Bewusstsein dessen, was sie tun, einem anderen Menschen das Leben nehmen. Gewiss, das hat Cliff auch getan, und das war schlimmstes Unrecht. Aber dies hier soll im Namen von Recht und Gesetz geschehen!? Wem nützt dieser Tod irgendetwas? Mir nimmt er einen Menschen, der mir in kürzester Zeit zu einem unschätzbar wertvollen Freund wurde. Und wer von uns allen hier, die wir zusehen, wie Cliff getötet wird, wird wohl mit solch einer Kraft, Zuversicht und Würde in den Tod gehen wie er?
Als wir den Zeugenraum betreten haben und Cliff uns sieht, begrüßt er uns und lächelt dabei breit über das ganze Gesicht. Irgendwie bin ich überrascht. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe; eigentlich passt das genau zu ihm, ist typisch; und vielleicht ist mir sein breites Lächeln nur deshalb so unbegreiflich, weil meine Gesichtszüge sich in dieser todernsten Situation wie eingefroren anfühlen. Am nächsten Tag erfahre ich durch die Zeitung, dass Cliffs Lächeln und seine positive Haltung ihm von den Angehörigen der Opfer negativ ausgelegt wurden, er habe die Sache nicht ernst genommen und überhaupt sei alles viel zu einfach gewesen. Ich habe Zweifel, dass sich Cliffs Wunsch, seine Hinrichtung möge den Angehörigen seiner Opfer den ersehnten Frieden bringen, erfüllt hat.
Cliff beginnt seine letzten Worte und wendet sich zunächst an die Angehörigen seiner Opfer, erklärt, dass ihm Leid tut, welchen Schmerz er ihnen zugefügt hat. Dann schaut er uns an und sagt: „Meine Freunde, ich liebe euch und bin glücklich, dass ihr ein Teil meines Lebens gewesen seid. Ich werde euch vermissen. Vergesst nicht: HEUTE werde ich mit Jesus im Paradies sein, und ich werde euch wiedersehen.“ Während er so zu uns spricht, ist sein Lächeln verschwunden und die Mundwinkel zucken, als kämpfe er mit den Tränen. Dann blickt er nach oben, spricht ein Gebet, schaut noch ein letztes Mal in unsere Richtung, flüstert: ‚I love you‘, dreht den Kopf zurück, und das Gift strömt in seine Adern. Es geht sehr schnell, und er ist bewusstlos, rührt sich nicht mehr; nach Sekunden hören wir ein einziges Mal das einem Schnarchen ähnliche Geräusch, wenn die Lungen kollabieren und die Luft entweicht, das uns der Gefängnispfarrer am Nachmittag noch demonstriert hatte. Dann passiert eine Ewigkeit lang nichts. Vier Minuten, so wurden wir zuvor informiert, werde nach Verabreichung der Infusionen gewartet. Vier endlos scheinende Minuten starren wir auf den leblosen Körper vor uns, bis ein Arzt den Raum betritt, Cliff untersucht, den Tod feststellt und den Todeszeitpunkt als 18.21 Uhr verkündet.
Wir werden aus dem Zeugenraum herausgeführt, müssen an irgendeiner Stelle warten, um der anderen Gruppe, den Angehörigen der Opfer, genug Vorsprung zu lassen, überqueren noch einmal die Straße, vorbei an den Kameras, und werden im unteren Stockwerk des Verwaltungsgebäudes schließlich entlassen. Es ist vorbei.
…
Der vollständige Bericht sowie Fotos und Gemälde von Clifford Boggess sind zu finden unter http://www.todesstrafe-texas.de/.
Zeuge einer Hinrichtung – Rick Halperin
Am 29. April 1998 wohnte Rick Halperin, Mitglied von Amnesty International und der Texas Coalition to Abolish the Death Penalty, in Huntsville, Texas, der Hinrichtung von Frank McFarland bei. Nachfolgend eine Zusammenfassung seiner Eindrücke:
„Frank McFarland wurde beschuldigt, Terri Lynn Hokanson erstochen zu haben, und wurde am 1. Februar 1988 zum Tode verurteilt. Bevor die Frau starb, berichtete sie der Polizei, dass sie von zwei Männern angegriffen und vergewaltigt wurde. Frank war 24 Jahre alt, als er verurteilt wurde, und er beteuerte stets seine Unschuld.
Ich kannte Frank bereits zwei Jahre, als sein endgültiges Hinrichtungsdatum festgesetzt wurde. Er bat mich, ihn im Gefängnis zu besuchen. Während des 4-stündigen Besuchs haben wir über viele Dinge geredet – das meiste drehte sich aber um seine anstehende Exekution. Seine Anwälte hatten weitere Beweise seiner Unschuld zusammengetragen, Frank war jedoch nicht sehr optimistisch, dass das Berufungsgericht ihm eine Anhörung gewähren würde. Mehrere Male sagte er mir, nach 10 Jahren Todestrakt sei er bereit für den Tod, er sei es leid, nach den Besuchen seiner Familie in seine Zelle zurückzukehren und festzustellen, dass die Wärter wieder einmal alles durchsucht und Dinge zerstört hatten. Er meinte, er sei es auch leid, in Handschellen gefesselt von 5 oder 6 Wärtern geschlagen und getreten zu werden. Es tat sehr weh, ihn sagen zu hören, dass er endlich frei sein würde, sollte Texas ihn tatsächlich hinrichten. Frank wollte auch nicht um Gnade bitten und er wollte sich nicht für ein Verbrechen entschuldigen, das er nicht begangen hatte. Schließlich fragte er mich, ob ich bereit wäre, bei seiner Hinrichtung anwesend zu sein, um nachher darüber berichten zu können. Anfangs erschreckte mich seine Bitte, schließlich willigte ich aber doch ein. Weitere Zeugen sollten lediglich seine Mutter und ein Freund sein.
Am 28. April erhielt ich einen Anruf: Das Berufungsgericht hatte Franks Bitte um eine Anhörung seiner Unschuldsbeweise tatsächlich abgelehnt.
Am 29. April, dem Tag der Hinrichtung, traf ich um 15.00 Uhr in Huntsville ein. Ich traf Franks Mutter, Diana, und den Freund. Er erklärte uns, was uns erwarten würde, und fragte Diana mehrmals, ob sie auch wirklich bereit sei, ihren Sohn sterben zu sehen. „Ja, ich bin bereit“, sagte sie. In ihr Leid mischte sich auch Wut. Auch sie glaubte fest an Franks Unschuld und sie erzählte mir, dass er einen Pflichtverteidiger zugewiesen bekommen habe, der ihn von Anfang an völlig unzureichend vertrat, nur weil die Familie nicht das Geld für einen eigenen Anwalt hatte.
Etwa um 16.15 Uhr fuhren wir zum Gefängnis; Walls Unit, wo Franks Hinrichtung stattfinden würde. Wir wurden in den Warteraum geführt. Schließlich wurden wir alle durchsucht und saßen dann still beieinander. So viele Gedanken gingen uns durch den Kopf…
Um 17.50 Uhr betraten drei Wärter den Raum und einer sagte: „Wollen die drei Zeugen bitte mitkommen?“ Nachdem wir uns mit sechs Gefängnisbeamten, zwei weiteren Wärtern und einem Reporter der Associated Press in einem sehr großen Raum eingefunden hatten, wurden wir um 18.15 Uhr in den Raum für die Hinrichtungszeugen geführt. Von hier aus konnte man in die Hinrichtungskammer sehen.
Frank lag bereits auf der Hinrichtungsbahre. Er sah uns an, als wir den Zeugenraum betraten und lächelte kurz. Er hatte eine Fessel um jeden Fußknöchel und je einen schweren Ledergurt um Beine, Oberschenkel, Taille und Brust. Die Hinrichtungskammer war sehr klein. Hätten wir die Glasscheiben öffnen können, hätten wir wohl Franks rechten Arm berühren können. In jedem seiner Unterarme steckte eine Injektionsnadel.
Der Gefängnisgeistliche stand am Fußende der Bahre und starrte auf den Boden. Er sah weder Frank noch uns jemals an. Der Gefängnisdirektor stand am anderen Ende, hinter Franks Kopf, und auch er starrte auf den Boden. Ein großes Mikrofon wurde aus der Decke bis nur wenige Zentimeter von Franks Mund entfernt heruntergelassen. Es war totenstill. Frank schloss seine Augen und drehte seinen Kopf, um direkt ins Mikrofon sprechen zu können. Ich fand es sehr erstaunlich, dass der Gefängnisdirektor immer noch auf den Boden starrte, als er zu Frank sagte: „Sprich deine letzten Worte, falls du welche hast.“
Frank beteuerte noch einmal seine Unschuld. „Ich schulde niemandem eine Entschuldigung für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe. Diejenigen, die gelogen und Beweise gegen mich erfunden haben, werden sich für das, was sie getan haben, verantworten müssen“, sagte er mit noch immer geschlossenen Augen. Gleich nachdem er aufhörte zu reden, rief seine Mutter ihm zu: „Ich liebe dich!“ Wieder wurde es totenstill und die Tötung Franks begann…
Seine Brust bewegte sich mehrere Male auf und ab während er noch atmete. Seine Augen waren geschlossen geblieben, seit er seinen Blick von uns abgewandt hatte. Er sah aus, als ob er schliefe. Plötzlich atmete er sehr lange aus und machte ein hustendes, gurgelndes Geräusch. Seine Brust bewegte sich nicht mehr und er lag vollkommen ruhig auf der Bahre. Er starb… Für etwa 4 Minuten schien die Szene wie eingefroren… niemand sagte ein Wort… Schließlich sagte Diana, die ihren toten Sohn noch immer ansah: „Nun ist er an einem besseren Ort.“
Ich konnte nicht glauben, was ich gerade erlebt hatte. Ich war entsetzt. Schließlich trat ein Mitarbeiter des medizinischen Personals an die Hinrichtungsbahre, leuchtete Frank in die Augen, fühlte seinen Puls und horchte sein Herz ab. Er richtete sich wieder auf und sagte: „Tod um 18.27 Uhr eingetreten.“ Der Gefängnisdirektor, der nun zum ersten Mal aufblickte, wiederholte die Worte ins Mikrofon.
Franks Mutter und ich sahen noch immer auf den toten Körper, als wir gebeten wurden, den Zeugenraum zu verlassen. Ich sah mich noch einmal kurz um: Frank, auf die Bahre geschnallt, in der Mitte des kleinen Raumes, Nadeln und Schläuche in seinen Armen… Es war ein so schmerzvoller Augenblick…
Später am Abend, als ich wieder in meinem Büro war, hörte ich einen Bericht in den Fernsehnachrichten. Der Oberste Gerichtshof der USA tadelte das Berufungsgericht, das für Texas und somit auch für Frank zuständig war. Der Oberste Richter William Rehnquist sagte: „Das Berufungsgericht hat durch hinausgezögerte Hinrichtungen die Opfer von Gewaltverbrechen betrogen.“ Und Richter Anthony Kennedy wurde zitiert: „Dem Staat muss ermöglicht werden, seine souveräne Gewalt zur Bestrafung Krimineller auszuüben. Nur mit einem wirklichen Abschluss (er meinte die Hinrichtung des Täters) können die Opfer von Gewaltverbrechen mit ihrem Leben fortfahren, wenn sie wissen, dass das Urteil vollstreckt wird.“
Nachdem ich nur 3 Stunden vorher gesehen hatte, wie der Bundesstaat Texas einen Menschen umbrachte, konnte ich die Aussagen der Richter kaum glauben. Was ich gesehen hatte, war nicht menschlich, und es war nicht gerecht. Ich war Zeuge des Bösen geworden. Und die Staatsbediensteten nahmen Franks Anwesenheit in der Hinrichtungskammer noch nicht einmal zur Kenntnis. Mir wurde wieder einmal bewusst, warum ich und so viele andere gegen die Todesstrafe kämpfen.
Hinrichtungstag
von Susanne Cardona
Im Jahr 2005 besuchte IgT-Mitglied Susanne Cardona einen ihrer Brieffreunde im Todestrakt von Texas an einem Tag, an dem die Hinrichtung eines anderen Gefangenen angesetzt war. Ihre Gedanken und Gefühle an diesem Tag hat sie im folgenden Bericht niedergeschrieben:
Hinrichtungstag
‚Biiiiep‘, der Tag fängt ja gut an! Was habe ich nur vergessen abzulegen, als ich das erste Mal durch den Metalldetektor ging? Ach ja, die Jacke! Also nochmals ohne… ‚biiiep’… So ein Mist! Was kann das nur noch sein? Da ist doch gar nichts Metallenes mehr! Bluse mit Plastikknöpfen, Rock mit Gummizug, Unterwäsche, Sandalen – aber die hatte ich vorher auch schon mal an und da war nichts! Also doch noch mal ohne die Sandalen….
Puh! Warum auch immer der plötzlich gegen die Sandalen allergisch ist, aber zumindest bin ich durch. Mein Herzschlag ist schon beträchtlich in der Höhe – hatte schon Panik, die lassen mich heute, an meinem letzten Tag hier, nicht rein!
Also wieder anziehen und durch die zwei Schleusen in den Besucherraum der Polunsky Unit.
Obwohl es erst kurz nach acht ist, ist es hier schon ziemlich voll. Ich gebe meinen Anmeldezettel ab und schaue mich erst mal um: Überall gedrückte Gesichter, an den Tischen sitzen schon ein paar Frauen. Die Stimmung ist absolut unten – man kann die Traurigkeit fast riechen, habe ich den Eindruck.
Heute ist auch ‚Abreisetag‘ für viele. Der Dienstag nach dem Ersten, viele haben es genutzt, dass der Erste auf das Wochenende gefallen ist, um dann mit möglichst wenig Zeitaufwand ihre Freunde möglichst oft sehen zu können. Der anstehende Abschied liegt allen auf dem Magen, die Trauer darüber ist den meisten schon an den Augen abzulesen.
Auch ich habe mir die Taschen mit Tempos gefüllt; zwar habe ich mir vorgenommen, nicht zu weinen, mich zusammenzunehmen und die restliche Zeit, die wir hier zusammen verbringen können, nicht durch Trübsinn zu vergällen, aber man kann ja nie wissen…
Die Menschen vorne im Raum, dort, wo der Mann sitzt, den sie heute hinrichten wollen, sind nicht nur einfach traurig. Als ich an ihnen vorbeigehe, spüre ich ihren Schmerz. Obwohl sie leise am Tisch sitzen, eigentlich kaum auffallen sollten, ist es, als ob ihre Qual wie in Wellen durch die Luft auf mich überschwappt.
Nur schnell hier durch, sie nicht auch noch ansehen, ihnen vielleicht zu allem noch das Gefühl geben, ‚Ausstellungsstück‘ zu sein!
Ich kontrolliere erst mal die Automaten – noch nicht aufgefüllt – schade, hätte das gerne hinter mich gebracht! Gestern waren hier in dieser Ecke viele der Angehörigen des Hinzurichtenden gesessen – ich will nicht noch mal hier her müssen, will nicht stören, aber andererseits auch nicht ihre Gesichter sehen müssen – es nimmt mich einfach zu sehr mit!
Ich setze mich auf meinen Stuhl und warte. Heute habe ich eine Kabine (oder sollte ich besser ‚den Käfig‘ sagen? – so sieht das nämlich eher aus!) in der Mitte der Reihe.
Ich versuche, mich nach hinten zu orientieren – ja nicht nach vorne zu den Angehörigen schauen! Versuche, ihre leisen Gespräche und die Schluchzer, die doch immer mal wieder zu hören sind, aus meinen Gedanken auszuschalten.
Das Warten fällt immer schwer, kommt einem immer lang vor, aber heute habe ich das Gefühl, dass sie besonders langsam sind! Irgendwann weiß ich nicht mehr, wohin ich noch schauen könnte, wie ich mich noch ablenken könnte.
Immer wieder bekomme ich die Stimmen der Angehörigen mit, immer wieder schwappt ihr Kummer zu mir rüber. Das erste Tempo ist jetzt schon nass, dabei hat mein Besuch noch nicht einmal begonnen….
Endlich bringen sie Chuong! Ich sehe sein Gesicht, sehe die Freude dort und lasse mich ablenken. Ich freue mich, ihn zu sehen, versuche, diesen letzten Besuch so bewusst wie möglich zu erleben. Möchte eigentlich alles Negative von diesen paar Stunden jetzt fernhalten, einfach noch ein paar schöne Stunden mit ihm verbringen! Ich konzentriere mich ganz auf ihn. Versuche alles links und rechts von mir auszuschalten, nichts in unsere Unterhaltung hinein kommen zu lassen!
Irgendwann meldet sich dann doch meine Blase und ich muss aufstehen. Sehe Michaela am Automaten anstehen. Haben die wirklich schon die Essens-Automaten aufgefüllt? Normalerweise machen sie dabei einen Riesenlärm, aber ich habe einfach nichts davon mitbekommen. War so konzentriert, dass ich absolut nichts gehört habe. Also auch hier anstellen, damit nicht alles weg ist, bevor ich ein paar Sachen für Chuong kaufen kann.
Wieder bin ich bei den Angehörigen. Wieder überrollt mich ihr Leid.
Eigentlich bräuchte ich jetzt dringend ein Tempo, aber dann müsste ich meinen Platz in der Schlange aufgeben, nochmals hinten anstellen und müsste mir das nur noch umso länger ansehen. Also halte ich es irgendwie aus – wische mir die Augenwinkel verstohlen mit den Fingerspitzen aus….
Zurück zu Chuong. Teilweise schon erzwungene Fröhlichkeit. ‚You start to cry‘, sagt er. ‚I know, just tell me anything!‘
Irgendwas, nur nicht an den Abschied denken müssen und v.a. nur nicht daran denken müssen, wie es wohl den Menschen vorne im Raum jetzt zumute ist!
Wir reden weiter. Freuen uns trotz allem an der Zeit, die uns noch bleibt.
Hinter Chuong bringen die Wärter jemanden weg. Ich schaue auf. Das muss der Mann sein, den sie heute hinrichten wollen! Ich sehe sein Gesicht, sehe es eigentlich nur für ein paar kurze Sekunden, vielleicht sogar noch kürzer, aber ich weiß, dass ich diesen Anblick sicherlich nie vergessen werde!
Sein Gesicht ist rot, man sieht, dass er geweint hat.
Der Kloß im Hals ist sofort da. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, weiß nur, dass das, was da heute mit ihm passieren wird, nichts mehr mit Menschlichkeit zu tun hat!
‚They’re bringing him away!‘, unterbreche ich Chuong.
Sein Gesicht wird weiß. Ich sehe ihm an, wie es an ihm zehrt.
Er starrt geradeaus. Kann sehen, was sich hinter meinem Rücken abspielt.
‚They take him to the strip-search!‘, sagt er.
Durch den Käfig hinter uns kann er den Eingang zur Gefangenen–Toilette sehen.
Ich kann es nicht glauben! Will es nicht glauben!
Chuong sagt mir, er hat gesehen, wie sie ihn in die Toilette, wo sie normalerweise die Gefangenen durchsuchen, bringen. Nicht nur einfach abtasten, sondern sich teilweise nackt ausziehen lassen, während die Wachen die Kleider durchsuchen, den Männern sagen, sie sollen sich vorbeugen und die Hinterbacken spreizen, dann wieder umdrehen und die Hoden hochheben….
Ihnen damit die Würde nehmen…
Mein Verstand weigert sich, das wirklich anzunehmen! Ich weiß, dass nicht immer jeder Gefangene durch den Strip-Search muss, nur ein Sergeant ist dafür bekannt, besonders viel zu untersuchen.
Wie sadistisch kann ein Mensch sein? Dieser Mann hier musste sich gerade von seiner Familie verabschieden, hat durch das Glas seinen Liebsten immer noch selbst beim Wegführen ein ‚I love you‘ zugerufen, wird heute hingerichtet werden – und da muss man ihn noch mal vor dem Transport dieser Tortur unterziehen?
Durch das Glas ist es sowieso unmöglich, einem Gefangenen etwas zuzustecken, wenn Gefangene etwas bekommen, dann geht das eh’ nur über einen Wärter, und der hätte dazu immer Gelegenheit, warum also noch einmal diese Entmenschlichung am letzten Tag seines Lebens?
Jetzt laufen die Tränen.
Ich schaue Chuong an, sein Gesicht ist steinern. Ich merke, wie sehr ihn das alles mitnimmt. Er kennt den anderen und muss sich auch noch überlegen, ob es nicht auch ihm irgendwann einmal genauso gehen wird.
Ich weiß im Moment nicht, was ich tun soll. Am liebsten würde ich ihn jetzt in den Arm nehmen und diesen Schmerz, den wir beide genau jetzt fühlen, gemeinsam mit ihm durchstehen. Doch die Glasscheibe unterbricht ja sogar den kleinsten Fingerspitzenkontakt. Wir können nur über Worte und Augen kommunizieren, doch im Moment ist selbst das extrem schwierig, denn Worte hierfür zu finden, ist einfach nicht möglich!
Immer noch überlege ich, wie ich jetzt am besten weitermache. Darüber reden und dabei alles vielleicht noch schlimmer machen? Das Thema wechseln? Nichts erscheint richtig…
Es dauert eine Weile, bis wir wieder zu unserer Unterhaltung zurückfinden. Doch die Stimmung ist gebrochen, das Erlebte zehrt an uns und gleichzeitig rückt der Abschied immer näher…
Irgendwann muss ich dann gehen. Wir hatten eine Vorwarnung, dann kommt die Wärterin zurück, sagt mir, dass ich mich jetzt verabschieden muss. Ich hoffe, dass sie uns hierfür wenigstens noch fünf Minuten gibt, aber sie dreht am Ende des Raumes, und beim Vorbeigehen winkt sie Chuong zu und ruft ‚Good bye!‘ – ein deutlicher Zaunpfahl!
Draußen vor dem Tor warten Marina und Michaela schon auf mich.
Marina sieht mich an, sieht mein Gesicht und steht kommentarlos auf, um mich zu umarmen. Da stehen wir nun, genau vor dem Eingang von Polunsky, und die Tränen fließen.
Langsam gehen wir zum Auto, aber ich habe das Gefühl, jetzt einfach noch nicht fahren zu können, ich brauche einfach noch ein paar Minuten, um die Belastung wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen….
Wieder im Gästehaus. Andreas wartet schon auf uns.
Ich gehe ins Schlafzimmer und bringe meine Sachen weg. Dann setze ich mich zu Andreas auf die Couch. Eigentlich wollte ich gar nicht darüber reden, aber jetzt muss ich ihm das einfach erzählen. Noch während des Redens fließen die Tränen, er nimmt mich in den Arm, versucht zu trösten…
Ich reiße mich zusammen, wir wollen ja heute noch einiges machen. Also schnell ein Brot essen und wieder in den Wagen nach Huntsville.
Wir hatten geplant, heute Mittag ins Gefängnis-Museum zu gehen, aber jetzt im Auto bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich das überhaupt noch sehen will, noch sehen kann.
Trotzdem gehe ich dort mit rein.
Der Mann am Empfang freut sich uns zu sehen, man kann es ihm richtig anmerken. Stolz erzählt er uns von dem kurzen Film, den sie zur Einführung haben. Also setzen wir uns und lassen ihn uns zeigen.
Schon der Film zeigt eine Kaltschnäuzigkeit anderen Menschen gegenüber, die ich einfach nicht begreifen kann. Mit Stolz wird hier berichtet, dass es in den Gefangenentrakten der Gefängnisse keine Klimaanlagen gibt (und das bei Betonbauten ohne Luftzirkulation, da es ja keine Fenster zum Öffnen gibt, und extremen Temperaturen!), alles reiner Beton ist und die Gefängnisse auch sonst darauf angelegt sind, es den Gefangenen möglichst unbequem zu machen. Ich glaube ja auch nicht daran, dass man Gefängnisse zu 5-Sterne-Hotels ummodeln sollte, aber ein wenig menschenwürdige Bedingungen sollte man doch hier in einem zivilisierten Land auch in einem Gefängnis erwarten können!
Dann kommen die Ausstellungsstücke.
Eines der Schaubilder an der Wand zeigt wohl Polunsky, auch Bilder vom Inneren der Gefangenentrakte, die man sonst eher nicht sieht.
Eine nachgebaute Zelle, die wohl den Zellen im Todestrakt nicht entspricht, aber zumindest eine authentische Toilette hat (warum muss man eigentlich bei diesen Toiletten-Waschbecken-Kombinationen die Toilettenschüssel so weil unten anbringen, dass darauf nur ein kleines Kind das Gefühl haben kann, in der richtigen Höhe zu sitzen? Wohl kaum aus Kostengründen!). Von Gefangenen selbst gebaute Waffen, konfiszierte Zigaretten und Radios usw. …
Schlimm werden dann allerdings andere Ausstellungsstücke: ‚Old Sparky‘, auf dem zig Menschen ihr Leben lassen mussten, eine tatsächlich zur Exekution verwendete Injektionsnadel…
Ich bekomme keine Luft mehr – muss hier raus!!!!
Renne fast zum Ausgang. Draußen ringe ich erst mal wieder mit meiner Beherrschung.
Andreas ist alle Ausstellungsstücke erst noch am Photographieren, sagt, er will sie sich dann zu Hause ansehen. Das gibt mir Zeit, mich wieder etwas zu beruhigen…
Ich hatte recht mit meinen Gedanken im Auto vorher: Heute ist definitiv kein guter Tag, dieses Museum anzusehen…
Es ist kurz vor sechs. Wir fahren zur Walls-Unit, wollen rechtzeitig für die Mahnwache dort sein.
Warum sind hier nur so wenige Menschen?
Ich hatte ja schon gelesen, dass sich meistens kaum Leute zur Mahnwache einfinden, aber damit habe ich nicht gerechnet! Ich erkenne ein paar Frauen wieder, die heute Morgen schon im Besucherraum waren – Frauen aus der Schweiz, die wie ich heute den letzten Tag mit ihren Brieffreunden verbracht haben. Dann noch drei Männer – mehr nicht. Wieder will mein Verstand nicht fassen, was ich hier sehe: Ich wusste ja, dass die Akzeptanz der Todesstrafe in Texas extrem hoch ist, aber wenn wir paar Touristen nicht hier wären, dann wäre hier fast keiner mehr! Wo sind die Menschen, die aufschreien? Die Menschen, die zeigen, dass hier etwas passiert, was einfach nicht sein darf?
Die Straße zum Eingang der Walls-Unit ist mit gelbem Band abgesperrt, wir stehen auf der anderen Seite der Kreuzung und sehen auf das Gefängnis, das Häuschen, in dem die Angehörigen des Täters bis zum Hinrichtungszeitpunkt warten und auf dieses gelbe Band mit den paar Polizisten dahinter.
Andreas ist unheimlich ruhig. Er schaut auf das Band. Fragt mich nochmals, was genau Dave Atwood letztes Jahr gemacht hat, als er die Absperrung übertreten hat, um ein Zeichen zu setzen. Schaut wieder das Band an. Ich bekomme Angst. ‚Bleib hier!‘, befehle ich ihm fast.
Irgendwie ist es mir wichtig, wenigstens zu wissen, wer diese paar Leute hier sind.
Die Frauen kenne ich ja bereits, mit den anderen rede ich ein paar Worte. Ein Anti-Todesstrafen-Aktivist aus Houston, der ungefähr zu jeder dritten Hinrichtung hier ist. Ein Professor der Kriminologie, er ist immer hier; manchmal komplett alleine mit seiner Kerze. Der andere Mann erzählt mir, er sei Polizeibeamter, der jetzt in Ruhestand gegangen ist. Er sagt, er wollte mal sehen, wie das hier ist. Ist gegen die Todesstrafe. Ich versuche ihn zu bestärken, hoffe, dass wenigstens er, der hier in der Gegend wohnt, von nun an öfter zu Mahnwachen hier sein wird.
Während wir reden, sehe ich, wie die Angehörigen die Straße überqueren und die paar Treppen zum Eingang der Walls-Unit hochgehen.
Ich gehe zu Andreas. ‚Die Angehörigen sind rein! Es wird keinen Stay geben!‘
Die Tränen schießen in meine Augen.
Ich drehe mich um, will nicht, dass die Polizisten mich weinen sehen. Andreas nimmt mich in den Arm – hält mich einfach.
Nach einer Weile fragt er, warum ich mich umgedreht habe. Ich denke, er hat recht. Sie sollten mich weinen sehen, sollen sehen, dass das, was sie da tun, auch Auswirkungen auf völlig fremde Menschen hat. Jetzt ist es mir egal, ob sie meine Augen sehen oder nicht.
Die Wartezeit beginnt. Es zieht sich unheimlich in die Länge.
Für einen Moment sagt keiner etwas, dann fangen leise Gespräche an. Eine ältere Dame aus der Schweiz kommt zu uns herüber, ich sehe, dass auch sie kurz vor dem Weinen ist, nehme sie in den Arm. Sie schluchzt, erzählt mir, dass sie daran denken muss, dass es auch bei ihren Freunden irgendwann so weit ist. Ich kann nur immer wieder schlucken, versuchen, diesen Kloß in meinem Hals ein wenig tiefer herunter zu bekommen. Nur nicht daran denken! Den Gedanken daran wieder ganz schnell verdrängen!
Wir warten und warten.
Auch Andreas ist ganz weiß. ‚Es ist etwas ganz anderes, in Deutschland davon zu hören, als hier zu stehen und zu wissen, dass 150m von dir entfernt gerade ein Mensch umgebracht wird!‘
Mir geht es genauso. Obwohl ich sicher weit mehr in dem Thema bin als er, empfinde ich es hier extrem schlimmer, als ‚einfach‘ nur davon zu lesen.
Noch immer weiß ich den Namen des Mannes nicht. Ich hatte keinen Kontakt, weder zu ihm noch zu irgendwelchen seiner Angehörigen oder Freunde. Wollte auch niemanden fragen. Nehme mir vor, sobald ich wieder ans Internet komme, seinen Namen herauszusuchen – diesen Tag, der mir so sehr wie ein Alptraum vorkommt und auch so sehr mit ihm verbunden ist, nicht zu vergessen.
Noch immer warten wir.
Ich schaue auf die Uhr, die Zeit vergeht unheimlich langsam.
Irgendwann kommt ein Mann in einem schwarzen Anzug aus der Walls-Unit. Heißt das, es ist vorbei?
Doch die Angehörigen sind noch nicht da.
Wieder warten, wieder schlucken, immer noch innerlich auf ein Wunder hoffen, obwohl ich weiß, dass es sicherlich keines gegeben hat.
Jetzt kommen die Angehörigen mit gesenkten Köpfen aus dem Haus. Es ist vorbei.
Und wieder fließen die Tränen.
Irgendwie hatte ich erwartet, dass es wenigstens ein Zeichen geben würde. Irgendwas. Doch absolut nichts! Man hätte von außen nicht sagen können, dass dort in dem Haus etwas passiert ist. Ein Mensch wurde umgebracht und es gibt nicht einmal ein Zeichen!
Die ältere Dame erzählt mir, dass sie beobachtet hat, wie während der Zeit der Hinrichtung die Wolken über die Sonne gezogen sind, die Welt ein wenig dunkler wurde.
Wir stehen noch eine Weile da und reden. Dann verabschiedet sich langsam einer nach dem anderen.
Ich sage Andreas, dass ich noch mal zu den Polizisten an der Absperrung will. Habe einfach das Bedürfnis, mit ihnen zu reden. Gehe dann auch rüber, frage zunächst nach dem Weg zum Gefängnisfriedhof und frage sie dann, ob sie das heute als einen ganz normalen Arbeitstag empfinden oder dies für sie trotz allem etwas Besonderes ist. ‚Ein Tag genau wie jeder andere!‘, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Was hatte ich auch anderes erwartet? Wenn ich ehrlich bin, habe ich genau mit dieser Antwort gerechnet. Trotzdem hoffe ich, dass vielleicht doch irgendwann einer von ihnen zu denken anfängt, wenn nur genügend Leute fragen…
Wir fahren zum Gefängnisfriedhof.
Der Friedhof ist wesentlich größer als ich ihn mir vorgestellt hatte. Kreuze und Grabsteine in engen, ordentlichen Reihen, dazwischen Rasen.
Einige der Kreuze nur mit einer Gefangenennummer, einige komplett ohne irgendetwas, andere mit Nummer und Sterbedatum. Bei einem der Kreuze, auf dem nur eine Nummer steht, liegen künstliche Blumen und auf einen Schild dabei ist aus Kunstrosen das Wort ‚Dad‘. Ich schlucke.
Dann die neueren Gräber. Alle Grabsteine mit Namen, Gefangenennummer und Sterbedatum. Selbst im Tod bleiben die Menschen hier Gefangene.
Viele der Namen sind mir unbekannt, ein paar erkenne ich wieder, von den Männern hatte ich in den Foren gelesen. Anhand der Nummern kann ich erkennen, ob die Menschen im ’normalen‘ Gefängnis waren oder auf Death Row – die Nummern der Todeskandidaten fangen alle mit 999 oder mit 000 an.
In der letzten Reihe zwei neu ausgehobene Gräber, bedeckt nur mit Brettern; man kann in das Loch hineinschauen.
Ich weiß nicht, ob der Mann, der heute hingerichtet wurde, hier beerdigt werden wird, glaube es aber kaum, da ihn doch sehr viele Leute besuchten, seine Familie an ihm hing. Trotzdem kommt es mir wie ein böses Omen vor: noch zwei Hinrichtungen hier in Texas in diesem Monat und zwei schon fertig ausgehobene Grabstätten….