Wird die Todesstrafe in den USA bald historische Vergangenheit? (1)
Aktuelle Entwicklungen, Ursachen und Gründe der kontinuierlich sinkenden Zahl von Hinrichtungen und ausgesprochenen Todesurteilen – Teil 1
2015 war mit 28 Exekutionen, die in sechs US-Bundesstaaten ausgeführt wurden, das hinrichtungsärmste Jahr in den USA seit einem Vierteljahrhundert. Auch wurden weit weniger Todesurteile ausgesprochen: Waren es 2014 noch 73 Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, belief sich die Gesamtzahl im Jahr 2015 auf 49. Aus Sicht der Gegner der Todesstrafe eine positive Entwicklung, die sich auch in diesem Jahr weiter fortsetzte: Während der ersten sechs Monate dieses Jahres wurden 14 Hinrichtungen durchgeführt, erneut weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Kritik an der Todesstrafe sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch in der Öffentlichkeit einschließlich Politikern, die wie Hillary Clinton offenkundig große Zweifel am amerikanischen Justizsystem äußerten, nahm ebenfalls weiter zu. Selten bildete das Justizwesen ein derart wichtiges Thema während der Präsidentschaftswahlen. Auch auf dem diesjährigen Weltkongress gegen die Todesstrafe in Oslo kam man zu dem Fazit: Man steht nicht mehr am Anfang einer Entwicklung, die zum Ende der Todesstrafe in den USA führt, sondern ist bereits mittendrin.
Die Frage liegt nahe, welche Gründe zu diesen Entwicklungen führten – warum werden ehemalige Befürworter der Todesstrafe zu Gegnern oder betrachten diese zumindest aus einem weit kritischeren Blickwinkel? Warum treten sogar Opfer und ihre Angehörige für die Abschaffung der Todesstrafe ein oder ehemalige Gefängnisdirektoren, Staatsanwälte und Justizangestellte? Genau diejenigen, welche die direkte Erfahrung und die Prozeduren von innen kennengelernt haben, umgekehrt jedoch keinesfalls zu der Kategorie „Pro-Täter“ zu zählen sind? Und warum plädieren immer mehr für lebenslängliche Haftstrafen anstelle von Todesurteilen?
Natürlich stellt sich zugleich eine weitere Frage: Kann mit einem weiteren rückläufigen Trend gerechnet werden oder könnten die Exekutionen von einem auf den anderen Tag wieder beginnen? Denn nichtsdestotrotz warten noch immer nahezu 3000 zum Tode verurteilte amerikanische Häftlinge auf ihr Schicksal und trotz der offensichtlichen Einstellungsänderungen, die innerhalb der Allgemeinbevölkerung zu verzeichnen sind, vertritt noch immer ein bemerkenswert großer Anteil den Standpunkt, die Todesstrafe solle beibehalten werden. Bestes Beispiel hierfür ist Kalifornien: Mit aktuell 746 zum Tode verurteilten Insassen ist er noch immer der US-Bundesstaat mit dem größten Todestrakt überhaupt und wird im November per Wahlen über eine mögliche endgültige gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe oder deren Beibehaltung abstimmen. Die derzeitigen Umfragen unter den kalifornischen Wählern zeigen, in welche Richtung auch immer die Entscheidung fallen wird, es wird ein knappes Ergebnis werden.
Die faktischen Entwicklungen wie die kontinuierlich gesunkenen Zahlen an Hinrichtungen und gefällten Todesurteilen sprechen jedoch bereits für sich. Die Gründe und Ursachen hierfür, wie auch für die sich allmählich vollziehende allgemeine Einstellungs- und Meinungsänderung in der Allgemeinbevölkerung sind mit Sicherheit in einer Vielzahl an Faktoren und Entwicklungen zu sehen, die sich über die vergangenen Jahre vollzogen haben:
Verpfuschte Hinrichtungen und die ethische Verweigerung seitens Ärzten und Pharmaunternehmen, ihre Dienste und Produkte für Hinrichtungszwecke missbrauchen zu lassen
Einen großen nachhaltigen Einfluss hatte die Pharmaindustrie: Seit rund fünf Jahren weigern sich europäische Pharmahersteller, ihre Produkte für Exekutionszwecke zu liefern, und im weiteren Verlauf mehrten sich auch amerikanische Hersteller und schlossen sich damit dem Berufsstand der Ärzte und Mediziner an, welche sich schon lange für Einsätze bei Hinrichtungen verweigerten, da dies ihrem Berufsethos widerspricht. Die offizielle Verkündung Pfizers als letztem amerikanischem Großkonzern, der noch offiziell an Gefängnisbehörden zu Hinrichtungszwecken einsetzbare Substanzen lieferte, dass auch seine Produkte und Medikamente nicht für Hinrichtungszwecke geliefert, bezogen oder eingesetzt werden dürfen, war ein weiterer Meilenstein dieser Entwicklung im Mai diesen Jahres.
Die Medikamentenbeschaffung wurde zu einem wachsenden Problem für all jene US-Staaten, die noch weiterhin an der Todesstrafe festhalten und exekutieren lassen. Der „Schwarzmarkt“ für Hinrichtungsmittel, dessen sich viele Gefängnisbehörden bedienen, ist unter der Hand bekannt, weshalb die Verkündung Pfizers mehr symbolische, aber natürlich auch meinungsbildende Bedeutung hatte. Dennoch führte die erschwerte Beschaffung der Hinrichtungsdrogen auch aufgrund verpfuschter Hinrichtungen zu einem Rückgang an Exekutionen: Um weiterhin hinrichten zu können, bedienen sich Gefängnisbehörden seit geraumer Zeit entweder „compounding pharmacies“ (Apotheken, welche anstelle fertiger Endpräparate über die entsprechenden Wirkstoffe und Substanzen verfügen, die selbst gemischt werden) oder anderer Lieferanten, die unter Geheimhaltungsschutz stehen, um weder die Quellen noch die Qualität der Substanzen der Öffentlichkeit bekanntgeben zu müssen. So kam es in Oklahoma beispielsweise bei der Exekution Charles Frederick Warners im Januar 2015 zu einer Verwechslung des verabreichten Wirkstoffs, die sich erst nach der Hinrichtung herausstellte: Anstelle des bereits zuvor für Exekutionszwecke eingesetzten Kaliumchlorids war Kaliumacetat verabreicht worden, ein Wirkstoff, der üblicherweise für Mumifizierungen und andere Konservierungszwecke eingesetzt wird und nie für Hinrichtungen vorgesehen war. Nicht oder falsch gelegte Venenzugänge, welche die präzise und notwendige exakte zeitliche Verabreichung der teils zwei oder drei verschiedenen Substanzen missglücken ließ, unerwartete paradoxe Wirkungen und körperliche Symptome, welche die Insassen plötzlich zeigten – die Liste misslungener Hinrichtungen ist lang und keineswegs auf einzelne US-Bundesstaaten begrenzt: So musste in Oklahoma Clayton Lockett im April 2014 über 40 Minuten kämpfen, bis der Tod eintrat: Der Zugang war falsch gelegt worden, wodurch der tödliche Wirkstoff sich statt im ganzen Körper (Blutkreislauf) lediglich lokal im Gewebe verteilte und Lockett bei vollem Bewusstsein nach Luft ringen ließ. Er starb nach 43 Minuten an einem Herzinfarkt. In Arizona dauerte im selben Jahr die Hinrichtung Joseph Woods eine Stunde und 57 Minuten. Für seine fast zweistündige Hinrichtung war dieselbe Kombination zweier Hinrichtungssubstanzen verwendet worden, die zuvor bereits in Ohio zu einer missratenen Exekution geführt hatten.
Der Rechtswissenschaftler Austin Sarat untersuchte sämtliche missglückten Hinrichtungen in Amerika zwischen den Jahren 1890 und 2010 und kam zu dem Ergebnis, dass die höchste Rate verpfuschter Hinrichtungen bei der lethalen Injektion zu finden ist: Jede siebte Hinrichtung mit der tödlichen Giftspritze verläuft demnach fehlerhaft.
Eine Reihe amerikanischer Bundesstaaten setzte aus diesen Gründen ihre Hinrichtungen aus und die verantwortlichen Gefängnisbehörden konnten sich der Rechtfertigung wie auch der Offenlegung durch Untersuchungen der Exekutionsprozeduren und verabreichten Substanzen ebenso entziehen wie dem wachsenden Druck und der Kritik der Medien. Somit ist nicht allein die Medikamentenbeschaffung zu einem kritischen Faktor geworden. Vielmehr stellt sich auch die grundsätzliche Frage, ob es sich tatsächlich um eine humane Methode der Hinrichtung handelt, die im Einklang mit der amerikanischen Verfassung steht.
Begangene Justizfehler und Justizirrtümer
Verpfuschte Hinrichtungsabläufe sind jedoch auch nur ein Teil des Gesamten, denn die über Jahrzehnte begangenen Justizfehler und -irrtümer, die nach und nach durch die Medien ans Licht kamen, häuften sich zu sehr, um weiterhin ignoriert werden zu können – egal ob man ein Befürworter oder Gegner der Todesstrafe ist: Seit 1973 wurden insgesamt 156 unschuldig zum Tode Verurteilte aus Todestrakten, in denen sie oft Jahrzehnte verbracht hatten, entlassen. Die Gründe hierfür waren erneut vielfältig: Fehlerhafte Zeugenaussagen, falsche Augenzeugenidentifikation, im wörtlichen Sinne „schlampig“ durchgeführte Strafverfolgungsprozesse, selbst Willkür und beruflicher Egoismus haben dazu geführt, womöglich noch weitaus mehr Unschuldige zu verurteilen. Einmal angeklagt, stehen den Gefangenen wenig Mittel zur Verfügung: Denn, obwohl Todesstrafenprozesse allein wegen der enormen Gerichtskosten und jahrzehntelanger Berufungsprozesse gigantische Summen kosten und für einen einzigen „Todesfallprozess“ Millionen-Beträge verschlingen, steht den Verurteilten selbst wenig zur Verfügung: In der Regel mittellos, kann der Großteil der Gefangenen lediglich auf die günstigsten Anwälte zurückzugreifen, die Pflichtverteidiger, die sowohl zeitlich als auch fachlich nicht selten mehr als an ihre Grenze stoßen. Die gewaltigen Gerichts- und Prozesskosten resultieren aus den enormen Kosten für Bürokratie, Gehälter für Richter und Staatsanwälte für die Strafverfolgung. Zeit und Gelder für gewissenhafte Aufklärungen im Sinne der Angeklagten stehen selten zur Verfügung.
Der Gedanke, dass Justizangestellte, selbst Staatsanwälte und Richter, aus beruflichem Egoismus Todesurteile anstreben und fällen, nach dem Motto: „Je schneller und härter, desto besser“, statt nach der Gerechtigkeit zu suchen, mag denen, die das politische und juristische System in Amerika, wahrscheinlich auch nicht die Mentalität und Denkweise kennen, zunächst absurd erscheinen. Doch in der Tat schnellten gefällte Todesurteile von Richtern kurz vor Wahlen in ihrem entsprechenden Bezirk insbesondere in den Staaten, in denen die Wähler mehrheitlich die Todesstrafe befürworten, hoch. Staatsanwälte galten als erfolgreicher, wenn ein Fall möglichst schnell abgeschlossen werden konnte und dazu noch ein Todeskandidat mehr auf der Liste stand. Schlampig durchgeführte Strafverfolgungsprozesse, in denen es nicht um Gerechtigkeit oder Wahrheit ging, sondern um den eigenen Nutzen des beruflichen Erfolges wie auch die Befriedigung der nach Vergeltung rufenden Bevölkerung, waren keine Seltenheit. Der Unterschied: Inzwischen wurden diese mehr und mehr aufgedeckt und kamen ans Licht. Als Beispiel erinnere man sich an den Fall Glenn Ford: Im Nachhinein erwiesen unschuldig zum Tode verurteilt, verbrachte er fast sein ganzes Leben hinter Gittern, bis der entscheidende Staatsanwalt sein eigenes Gewissen über die Fehler am Ende seiner Karriere selbst nicht mehr ertrug und die Wahrheit sprach: Er hatte von den Fehlern der Strafverfolgung gewusst und bewusst diese nicht offengelegt. Der Fall war auf diese Weise nicht korrekt untersucht worden, aber galt eben als erfolgreich abgeschlossen und half seiner beruflichen Stellung und Verbesserung seiner beruflichen Situation. Glenn Ford wurde nach 29 Jahren im Todestrakt entlassen – in einem Alter, in dem eigene Krankheiten ihn bereits in die Knie zwangen und ihm außer der Bestätigung, dass er unschuldig war, nur noch ein weiteres Lebensjahr in Freiheit verblieb.
Da sich jedoch auch die Meinung innerhalb der Allgemeinbevölkerung, welche die unmittelbaren Wähler darstellen, ändert, kann man von einem wechselseitigen Effekt ausgehen: Richter und Staatsanwälte werden entsprechend der Einstellungsänderung der Wähler nicht mehr wie früher, als der öffentliche Schrei nach Hinrichtungen weitaus lauter war als heute, vermehrt Urteile aussprechen, um damit Wählerstimmen zu gewinnen. Auch kommt die Justiz um eine verschärfte Prüfung aufgrund zu vieler begangener Fehler und Justizirrtümer, zu denen aufgrund von rassistisch bedingter Voreingenommenheit gefällte Urteile ebenso zählen wie die Verurteilung Unschuldiger oder die manipulierte Auswahl der Jurymitglieder, nicht mehr herum. Zusätzlich müssen sich einige Staaten wie Florida und Delaware einer grundsätzlichen Prüfung ihrer Todesstrafenprozesse unterziehen: In beiden Staaten kam entgegen der amerikanischen Verfassung der Jury lediglich eine beratende, nicht aber eine entscheidende Funktion zu: In beiden Staaten, wie auch in Alabama, konnte letztendlich der Richter eine Jury-Entscheidung über ein vermeintliches Todesurteil oder eine lebenslängliche Haftstrafe am Ende überstimmen.
Neben administrativen und operativ begangenen Fehlern und Justizirrtümern, stieg daher auch die Anzahl verfassungsrechtlicher Grundsatzklagen gegenüber der allgemeinen Legitimation der Todesstrafe wie auch der damit einhergehenden Gerichtsprozesse. Ob administrative, operative oder sogar systemische Justizfehler, -mängel und -irrtürmer: Kaum einer der verbleibenden 31 amerikanischen Bundesstaaten, in dem die Todesstrafe mindestens noch per Gesetz existiert, musste sich nicht über kurz oder lang den offensichtlichen Widersprüchen stellen und das, obwohl es gerade hierbei um Recht und Gerechtigkeit gehen sollte…
Cornelia Goecke
Initiative gegen die Todesstrafe e.V.
Lesen Sie in Kürze im zweiten Teil des Artikels u.a. über die rationalen Gründe, welche für die Alternative lebenslängliche Haftstrafe anstelle von Todesurteilen sprechen, und warum selbst Opfer oder deren Angehörige oftmals für eine Abschaffung der Todesstrafe plädieren.
Quellen und weitere Informationen:
Death Penalty Information Center (DPIC): The Death Penalty in 2015: Year End Report; Charles Hamilton Houston Institute for race & justice (CHHI), Harvard Law School: Death Penalty Year End Report 2015; Reprieve: “Lethal Injection”, “Key Cases”; „Pfizer´s Death Penalty Ban Highlights the Black Market in Execution Drugs“, The Intercept vom 19. Mai 2016.“Gruesome Spectacles: Botched Executions and America’s Death Penalty“ Austin Sarat (Rechtswissenschaftler des Amherst College), 2014.
15.08.2016