Wird die Todesstrafe in den USA bald historische Vergangenheit? (2)
Aktuelle Entwicklungen, Ursachen und Gründe der kontinuierlich sinkenden Zahl von Hinrichtungen und ausgesprochenen Todesurteilen – Teil 2
Mitte der 90er Jahre befürworteten noch rund 80 Prozent der amerikanischen Bevölkerung die Todesstrafe. Im Herbst letzten Jahres waren es dagegen nur noch 61 Prozent (Ergebnisse des Gallup Unternehmens). Parallel zu der in Teil 1 des Blogs gezeigten kontinuierlich gesunkenen Anzahl ausgesprochener und vollstreckter Todesurteile zeigt sich damit neben dem durch die legislative Ebene bestimmten Abwärtstrend auch ein eindeutiger allgemeiner Einstellungswandel innerhalb der amerikanischen Allgemeinbevölkerung.
Naheliegend stellt sich die Frage nach den Gründen und Ursachen, die zu diesem sich zwar langsam, aber doch kontinuierlich vollzogenen Einstellungswandel geführt haben. Was hat immer mehr ehemalige Befürworter der Todesstrafe veranlasst, zu Gegnern oder zumindest Kritikern dieser zu werden? Und warum befinden sich unter genau diesen sogar Opferangehörige? Denn es scheint zunächst absurd, dass ausgerechnet ein Vater oder eine Mutter nach der Ermordung des eigenen Kindes öffentlich gegen die Todesstrafe demonstriert. Dabei sind sie keineswegs Einzelfälle, wenn auch die Gründe und Faktoren, die zu einem Wandel in der Einstellung und Haltung innerhalb der amerikanischen Allgemeinbevölkerung geführt haben, mit Sicherheit vielschichtig und vermutlich das Ergebnis verschiedener Bewegungen, rationaler wie auch höchst individueller und persönlicher Erkenntnisse, die sich über einen jahrezehntelangen Zeitraum immer mehr durchgesetzt haben.
Neben den im vorherigen Blog genannten und weder für den Staat noch für eine verantwortungsbewusste Bevölkerung zu ignorierenden Faktoren wie Fehlurteile, herrschende Willkür in Todesurteilsprozessen oder verpfuschte Hinrichtungen, gibt es eine Reihe weiterer rationaler Gründe und Argumente, welche für eine Abschaffung der Todesstrafe zugunsten der Alternative Lebenslängliche Freihheitsstrafe ohne Bewährung sprechen.
Dauer und Kosten der Prozesse
Unter die rationalen Gründe fällt insbesondere der durch das amerikanisch bedingte Todesstrafensystem enorme Zeit- und Kostenaufwand, der jedes einzelne Todesurteil und die damit verbundenen Prozesse mit sich bringt: So hatte der inzwischen 52-jährige Robert B. (Name zum Schutz des Insassen abgekürzt) bereits im Alter von 18 Jahren die Endstation San Quentin erreicht, als er 1981 zum Tode verurteilt wurde. Seitdem ist er im Todestrakt des kalifornischen Hochsicherheitsgefängnisses inhaftiert, und selbst nach den vergangenen fast 35 Jahren sind seine Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen. Sein Fall stellt dabei keine Ausnahme, sondern eher die Regel dar. Ob Florida, Texas oder Louisiana – vom Tag eines Todesurteils bis zur möglichen endgültigen Hinrichtung vergehen in den meisten Fällen mehrere Jahrzehnte. Die jahrelange Ungewissheit, der Zeitaufwand sowie die Vielzahl an zu durchlaufenden und oftmals durch die Medien begleiteten Gerichtsprozessen stellen für die Familiengehörigen der Opfer wie auch die ebenfalls unschuldigen Angehörigen der Täter eine nicht enden wollende Tortur dar.
Darüber hinaus verschlingen das amerikanische Todesstrafensystem insgesamt wie auch die einzelnen Todesurteilsfälle Unsummen an finanziellen Ressourcen: Ob Kosten für die spezielle Inhaftierung der Todestraktinsassen, Gehälter für Richter und Staatsanwälte, Personalschulungen für die Vollstreckung von Exekutionen oder Kosten für die Medikamentenbeschaffung – die Liste ist lang für all das, was schlicht und einfach bezahlt und finanziert werden will.
Exakte Angaben über die Kosten, welches ein einzelnes Todesurteil mit sich bringt, sind schwer möglich, da jeder Prozess einzelfallabhängig und zudem von den Besonderheiten der einzelnen amerikanischen Bundesstaaten abhängig ist. Allgemein lässt sich sagen, dass sich der höchste finanzielle Aufwand durch die meist gesetzlich vorgeschriebenen Gerichtsverfahren für einen einzelnen Todesstrafenprozess auf mindestens eine Million Dollar beläuft, ohne dass hierbei die Inhaftierungs- oder Exekutionskosten mit inbegriffen sind: In Nebraska kam eine universitär durchgeführte empirische Studie zu dem Ergebnis, dass der Staat jährlich14,6 Millionen Dollar für die Beibehaltung der Todesstrafe aufbringen muss und ein einzelnes Todesurteil durchschnittlich 1,5 Millionen Dollar Mehrkosten verursacht als eine Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.
Empirische Daten anderer amerikanischer Bundesstaaten kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Demnach belaufen sich in Washington die Kosten, die ein einzelnes Todesurteil mit sich bringt im Durchschnitt auf 3,07 Millionen Dollar, während sich die Kosten durch die Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe lediglich auf 2,1 Millionen Dollar belaufen. Im US-Bundesstaat Kansas geht man davon aus, dass jedes Todesurteil das Vierfache an finanziellen Ressourcen erfordert als ein Nicht-Todesurteil. Hinzu kommen die bereits erwähnten Kosten und Ausgaben für die speziell erforderliche Inhaftierung der Todestraktinsassen wie auch die einzelnen Exekutionen.
Die Haltung von Opferangehörigen
Es sind jedoch nicht nur rationale Gründe und ökonomische Faktoren, welche die Stimmen zur Abschaffung der Todesstrafe und zugunsten der Alternative Lebenslängliche Freiheitsstrafe über die Jahre hat immer lauter werden lassen. Gerade Opferangehörige haben für sich oftmals erkannt, dass die Todesstrafe unabhängig der ihr zugrundeliegenden Kosten oder Aufwände keinesfalls ein Garant ist, dass das Leid erträglicher wird oder die Situation besser macht: So hat sich beispielsweise Aba Gayle, die ihre 19-jährige Tochter durch Mord verloren hatte, Jahre nach der Tat der kalifornischen Vereinigung für Mordopfer angeschlossen, welche sich aktiv für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt und für alternative Bestrafungen bei Kapitalverbrechen plädiert. Es war ein langer Prozess, den die Mutter durchlief: Der vorsitzende Richter in dem Todesurteilsprozess hatte ihr versichert, dass die Hinrichtung des Täters ihr helfen werde zu heilen. Auch sie glaubte dies zunächst und trug jahrelang den Rachegedanken mit sich rum. Bis die Mutter eines Tages persönlich für sich erkannte, dass ein staatlich ermordeter Mensch ihr den Schmerz nicht nehmen würde und sie auch durch eine Hinrichtung nicht heilen würde. Explizit wehrte sie sich dagegen, dass jemals in ihrem Namen jemand ermordet wird – auch nicht unter dem Deckmantel der Justiz. Die Mutter hatte nach dem tragischen Verlust eine mehrere Jahre dauernde spirituelle Suche durchlaufen und sich durch Bücher, Erfahrungsberichte anderer Betroffener, geholfen und sich am Ende mit „Vergebung“ auseinandergesetzt. 12 Jahre nach der Ermordung ihrer Tochter schrieb sie dem Täter einen Brief, in dem sie ihm erklärte, dass sie ihm verziehen habe. In diesem Moment begann ihre Heilung einzusetzen – so die persönliche Erfahrung Aba Gayles.
Sie ist mit ihrer individuellen Erfahrung nicht die Einzige, obwohl es der kalifornischen Vereinigung für Mordopfer keineswegs ausschließlich um den persönlichen Akt der Verzeihung oder Vergebung geht, welcher ohnehin nicht übertragbar ist. Die Vereinigung setzt sich wie viele andere private Initiativen und Zusammenschlüsse insbesondere auch für eine Umleitung der enormen finanziellen Ressourcen ein, welche die Todesurteilsprozesse verschlingen und anstelle dessen der Opferkompensation zugutekommen sollten oder auch dort eingesetzt werden sollten, wo der Ursprung der Gewalt und Kriminalität liegt.
Im Beispiel des Sonnenstaats Kaliforniens den sozialen Brennpunkten Los Angeles, welche nicht nur die Hochburgen der Straßenkriminalität darstellen, sondern zugleich Orte, an denen Kinder und Heranwachsende weder soziale Gerechtigkeit erfahren noch Perspektiven sehen und die Straße schlicht und einfach das Zuhause bildet und die einzige Möglichkeit eines eigenen Lebens darstellt. So stellt für Derrel Myer, der seinen Sohn Jojo durch Mord in den Straßen L.A.s verlor, die amerikanische Todesstrafe auch keineswegs eine individuelle Angelegenheit einer einzelnen kriminellen Tat und deren Bestrafung dar. Vielmehr ist in seinen Augen die Todesstrafe direkt verbunden mit den größeren sozialen Problemen von Rassismus, Ungleichheit und Armut. „Wenn wir eine wahrhaftig gerechte Gesellschaft wären, eine Gesellschaft, die Kinder mit all ihren größeren Unterschieden respektierten würde, eine Gesellschaft, die echte Möglichkeiten bietet, Freiheit und Gerechtigkeit für alle, dann würde unser Sohn Jojo hier jetzt ein hoffnungsvolles, großzügiges und liebenswertes Leben führen. Und so würde es auch der junge Mann, der ihn umbrachte“, so die Worte Derrel Myers nach dem grausamen Schicksalsschlag.
Die Stimmen, die sich gegen die Todesstrafe aussprechen, sind damit keinesfalls nur in der „Pro-Täter“-Kategorie angesiedelt. Auch ehemalige Justizangestellte, denen es sehr wohl um die Sicherheit der Gesellschaft und eine gerechte Bestrafung geht, äußern sich oft in ähnlicher Weise wie Jeanne Woodford: Die aktive Todesstrafengegnerin arbeitete 25 Jahre in San Quentin, zuletzt als Gefängnisdirektorin. Vier der während ihrer Berufsjahre durchgeführten Hinrichtungen hatte sie persönlich zu beaufsichtigen. Bis heute erinnert sie sich an einen der ebenfalls anwesenden Gefängniswärter, der ihr nach jeder Exekution dieselbe eine Frage stellte: „Ist die Welt durch das, was wir heute Abend taten, sicherer?“ Alle kannten die Antwort, die ebenfalls jedesmal dieselbe war: „Nein.“ Auch sie setzt sich wie viele andere ehemalige Justizangestellte oder auch Politiker, die einst selbst für verschärfte Gesetze in Todesurteilsprozessen gesorgt hatten, für die Abschaffung der Todesstrafe ein.
Empirisch erwiesen hat sich zudem, dass Todesurteile weder zu sinkenden Mordraten noch zu einer Lösung sozialer Probleme geführt haben. Lebenslängliche Freiheitsstrafen ohne Bewährung wären damit nicht nur aus ökonomischer Sicht die günstigeren Alternativen, sondern würden auch das Risiko der möglichen Hinrichtung von unschuldig Verurteilten ausschließen. Es scheint, als habe auch der weltweite Trend, der sich immer mehr von der Todesstrafe wegbewegt – nur Japan und die USA verbleiben unter den industrialisierten Staaten, die noch an der Todesstrafe festhalten -, ebenfalls einen Einfluss auf die Meinung und Einstellung innerhalb der amerikanischen Allgemeinbevölkerung: Auch hier wurden während der letzten Zeit die Rufe lauter, dass man nicht mit Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan in eine Schublade gesteckt werden wolle.
Die in Teil 1 des Blogs dargestellten rückläufigen Hinrichtungszahlen haben den deutlichen Abwärtstrend in Bezug auf die Todesstrafe bereits aufgezeigt. Ob die Todesstrafe in Amerika in absehbarer Zeit bereits vollständig zur Vergangenheit werden wird, bleibt weiterhin fraglich. Nicht geleugnet werden kann jedoch der grundsätzliche Einstellungswandel, der sich auch in der breiten Bevölkerungsschicht vollzieht, und ebenso wird sich die amerikanische Justiz auf lange Sicht der gerechtfertigten Kritik aufgrund objektiver Fehler nicht entziehen können und entsprechend durch Gesetzesänderungen reagieren müssen. Die Macht, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen, liegt sowohl in der Hand der Wähler als auch des Staates, welcher durch eine Verfassungsänderung auch ohne die Befürwortung durch die Bevölkerung eine vollständige Abschaffung der Todesstrafe bewirken könnte. Umgekehrt betrachtet, ist auch die amerikanische Bevölkerung keinesfalls machtlos, denn noch immer entscheiden die Wählerstimmen über das Handeln vieler Politiker. Ein Wechselspiel, in das eine Vielzahl weiterer Faktoren mit einspielt.
Cornelia Goecke
Initiative gegen die Todesstrafe e.V.
Quellen und weitere Informationen:
Erfahrungsberichte von Opferangehörigen wie Aba Gayle finden Sie auf der offiziellen Webseite der California Crime Victims for Alternatives to the Death Penalty: www.californiacrimevictims.org; Zahlen und Fakten bezüglich der Ausgaben für die Todesstrafe in Kalifornien und ungelösten Morden: “The Silent Crises in California: Unsolved Murders”, California Crime Victims for Alternatives to the Death Penalty, April 2010; „Murder victim´s family calls for end for the death penalty“, Daily Commercial vom 9. September 2016; „Interview: Jeanne Woodford of Death Penalty Focus“, (Interview mit Jeanne Woodford), California Catholic Conference vom 18. Mai 2012.
Weitere Quellen insbesondere zu den genannten Daten, Zahlen, Fakten, Statistiken:
California Department of Corrections and Rehabilitation (CDCR); Death Penalty Informaction Centre (DPIC); „Solid Majority Continue to Support Death Penalty“, Gallup-Studie vom 15. Oktober 2015.
Lesen Sie zu den Kosten der Todesstrafe insbesondere die folgenden Artikel und Studien: Für Nebraska: „The Economic Impact of the Death Penalty on the State of Nebraska: A Taxpayer Burden?“ E. Goss, et. a./ Goss & Associates Economic Solutions vom 15. August 2016; für Washington: „Seeking death penalty adds $1M to prosecution cost, study says,“ Sullivan, J., Seattle Times vom 7. Januar 2015; „An Analysis of the Economic Costs of Seeking the Death Penalty in Washington State,“ Collins, P. et al, Seattle University vom 1. Januar 2015; für Florida: „Bottom Line: Life in Prison One-Sixth as Expensive,“ Miami Herald vom 10. Juli 1988.
27.09.2016