Welttag gegen die Todesstrafe 2022: „Für meinen verstorbenen Freund Timmy Weber“
Todesstrafe:
Ein mit FOLTER gepflasterter Weg

Am 10.10.2022 ist der 20. Welttag gegen die Todesstrafe dem Schwerpunkt FOLTER gewidmet,
… denn Geständnisse werden mitunter durch physische oder psychische Folter erzwungen,
… Haftbedingungen in Todestrakten kommen nicht selten psychischer Folter gleich,
… Täterangehörige erleiden Traumata durch Hinrichtungen oder auch Aufschübe in letzter Minute,
… die Belastung, einen Menschen per Exekution zu töten, führt mitunter zu Berufsunfähigkeit,
… Opferangehörige durchleben immer wieder das Trauma der Tat – teilweise erfolgt die Hinrichtung gegen ihren ausdrücklichen Willen…
Für meinen verstorbenen Freund Timmy Weber

Folter, gibt es das überhaupt noch in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts? Ist das nicht eher ein Thema, das im Mittelalter anzusiedeln ist oder allerhöchstens noch in unterentwickelten Staaten der Dritten Welt oder des fernen arabischen Einzugsgebiets? Ich wage zu behaupten, dass Folter immer noch allgegenwärtig ist, aber sie hat andere Formen angenommen. Bis vor fünf Jahren ging ich uninteressiert an solchen Themen durch die Welt, schließlich lebe ich in einem modernen Land, in dem Rechtstaatlichkeit und moderate Justiz seit vielen Jahrzehnten praktiziert wird. Die Todesstrafe wurde erstmals im Jahr 1787 unter Kaiser Joseph II. und letztlich endgültig im Jahr 1950 in Österreich abgeschafft.
Vor etwa vier Jahren wurde ich zufällig auf eine Dokumentation des BBC-Journalisten Sir Trevor McDonald aufmerksam, in der er den Alltag von drei zum Tod verurteilten Häftlingen in US-amerikanischen Gefängnissen ziemlich ungeschönt zeigte und in der sowohl die Betroffenen als auch Angehörige und das Gefängnispersonal zu Wort kamen. Was darauf folgte, war eine eigene intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und eine über die Jahre anhaltende Brieffreundschaft zu Timmy Weber, der am 18. Mai dieses Jahres in Las Vegas gestorben ist. Über ihn und darüber, was er mir in den letzten Wochen und Monaten schrieb, will ich hier berichten. Die Zustände, die er schilderte und die mir unabhängig auch von anderen Insassen bestätigt wurden, können durchaus als moderne Interpretation von Folter bezeichnet werden.
Eine Freundschaft entwickelt sich
Gleich vorweg, Timmy Weber war keiner von den „guten Jungs“, er saß im Todestrakt des Ely State Prison in Nevada, weil er furchtbare Verbrechen begangen hatte, die eine Bestrafung unumgänglich machten. Doch nur, wer es wagt, trotzdem vorurteilsfrei einem Häftling Kontakt und Freundschaft anzubieten, wird mit der Zeit entdecken, dass ein Mensch niemals ausschließlich an seinen Taten zu messen ist. Es gibt immer ein Davor und ein Danach.
Mit der Zeit öffnete sich Timmy Weber in dem Maße, in dem diese Bereitschaft auch von mir kam. Ich kann heute mit Fug und Recht sagen, dass auch ich einen persönlichen Benefit aus dieser Brieffreundschaft mitnehmen durfte. Timmy starb nicht durch eine staatliche Hinrichtung im Gefängnis, sondern an den Folgen einer akut gewordenen Sepsis im Sunrise Hospital in Las Vegas. Die mangelhafte, um nicht zu sagen: überhaupt nicht vorhandene, medizinische Betreuung im Gefängnis in den sechs Monaten zuvor ist aus meiner Sicht durchaus als moderne Folter zu bezeichnen.
Erste gesundheitliche Probleme
Es begann im Dezember des vorigen Jahres, als mir mein Brieffreund in jedem Brief über äußerst starke, aber undefinierbare Schmerzen schrieb, einmal fühlte er diese Schmerzen in den Gelenken, dann wieder in den Muskeln, sehr oft gleichzeitig und tagelang, manchmal sogar über Wochen. Er suchte mit den üblichen Formularen um einen Arzttermin an, allerdings wurde er erst beim dritten Versuch ernst genommen. Es würde, so erklärte er es mir, grundsätzlich zweimal abgelehnt. Medizinische Anträge werden vom Personal des Ely State Prison regelmäßig ignoriert, auch das wurde mir mehrfach von Anderen bestätigt.
Da Timmy abgesehen von der Tatsache, dass bei ihm eine leichte Gerinnungsstörung des Blutes evident war, grundsätzlich aber sonst nie medizinische Probleme hatte, vermutete er zu Beginn, er könnte sich mich Corona infiziert haben, und seine Gelenksschmerzen wären möglicherweise die Folge davon, also das bekannte Long-Covid-Phänomen. Eine erste dokumentierte Untersuchung, vorgenommen durch eine Krankenschwester auf der Krankenstation des Ely State Prison ergab eine leichte bis mittlere Form von Gelenksabnützung. Man verschrieb ihm Aspirin und falls er dieses nicht vertragen würde, Thomapyrin, also handelsübliche Schmerzstiller, die im Gefängnis bedenkenlos für alle Krankheiten verschrieben werden, gerechtfertigt oder nicht.
Mangelhafte medizinische Versorgung
Wochen vergingen, die Schmerzen allerdings nicht. In den Briefen teilte er mir mit, wie verzweifelt er sei, denn seine Schmerzen hatten sich bereits so stark erhöht, dass er weder stehen noch sitzen konnte vor Schmerz, geschweige denn den Schreibstift zu halten, um mir ein paar Zeilen zu schreiben. Immer wieder würde er darum bitten, von einem Arzt untersucht zu werden. Wir waren uns mittlerweile sicher, dass er an einer wesentlich ärgeren Grunderkrankung leiden würde, als es die schlecht ausgebildeten Krankenschwestern vor Ort erkennen können.
Auf einem seiner letzten Fotos war zu erkennen, dass er in kürzester Zeit rapide an Gewicht verloren hatte. Immer ein zuverlässiger Indikator für eine zugrunde liegende schwere Erkrankung. Doch anstatt seine Beschwerden ernst zu nehmen, kürzte man ihm die (ohnehin kaum sinnvollen) Medikamente, mit der Begründung keine Abhängigkeit davon provozieren zu wollen. Einige Wochen später, wir schrieben mittlerweile Februar 2022, kam nach Intervention seiner Anwältin doch noch ein Termin für Timmy im Bezirkskrankenhaus in Ely zur genauen Diagnostik zustande.
Krankenhausaufenthalt
Bei einem Insassen eines Todestrakts bedeutet das aber nicht, dass man sich vielleicht kurz Zeit nimmt und mit dem Patienten unter Aufsicht von ein oder zwei Beamten ins Spital fährt und nach Ende der Untersuchung wieder zurück. Es handelt sich in so einem Fall um eine enorme Logistik, da man, verständlicherweise, jeden Schritt unter äußerst verschärftem Sicherheitsaufwand setzen muss.
Timmy wurde an Händen und Füßen gefesselt und unter Aufsicht mehrerer bewaffneter Beamter mit einem Krankentransportwagen in das Spital gebracht. Aus Sicherheitsgründen wurden alle seine Untersuchungen streng abgeschirmt von anderen Patienten durchgeführt. Dazu musste er einige Tage in einem eigenen, zur Hochsicherheitszelle umgebauten Krankenzimmer übernachten. Die Ärzte ordneten mehrere Bluttests und Laboruntersuchungen an, es wurden Röntgenaufnahmen und computertomographische Untersuchungen erstellt und ausgewertet. Als Resultat dieser Untersuchungen teilte man ihm eine Rheumatische Polymyalgie mit, zur Behandlung verschrieb man Antibiotika. Inwiefern das hilfreich war, kann ich nicht beurteilen, dazu fehlt mir das medizinische Fachwissen.
Hoffnungsschimmer
Im ersten Brief, den mir Timmy nach seinem Krankenhausaufenthalt schrieb, sprach er davon, wie glücklich er jetzt wäre, endlich einen Namen für seine Krankheit zu wissen, und wie gut man ihn im Spital behandelt habe, im Gegensatz zur Krankenstation des Gefängnisses. In seinem umfunktionierten Krankenzimmer hatte er zwar kein Tageslicht gesehen, aber es sei beheizt gewesen und dies habe seinen Gelenken und Muskeln sehr gutgetan. Jetzt säße er aber wieder in seiner kalten Zelle, und die Schmerzen begannen erneut.
Darauf folgte eine Serie von Briefen, in denen er immer wieder über kleine Erfolge sprach, es schien, als würden die verordneten Medikamente langsam, aber doch nachhaltig zu einer Verbesserung führen. Vier Wochen vor seinem Tod erhielt ich in kurzer Abfolge mehrere bedenkliche, fast panische Briefe von meinem Brieffreund. Er schrieb mir, dass er zuerst immer geringere Dosen seiner Arznei und letztlich gar nichts mehr zugeteilt bekam. Die Schmerzen kehrten zurück, intensiv wie kaum zuvor. Spätestens jetzt war mir klar, dass es sich nicht nur um eine unzureichende Diagnose handeln müsste, sondern auch um wissentlich begangene Misshandlung, vor allem durch das Aufsichtspersonal, vorrangig die Mitarbeiter der Krankenstation.
Das dramatische Ende
Der Anfang vom Ende begann am 13. Mai dieses Jahres, Timmy musste sehr starke Schmerzen bekommen haben, wurde apathisch und war nicht mehr ansprechbar, wie mir sein einziger Freund vor Ort später schrieb. Zur selben Zeit, als ich vom ORF eingeladen war, im Morgenfernsehen ein Interview zum Thema „Brieffreundschaften in den Todestrakt“ zu geben, begann mehrere tausend Kilometer weiter westlich tatsächlich ein Todeskampf.
Erst nach dem Wochenende, an dem erfahrungsgemäß weniger Wachpersonal zur Verfügung steht, entdeckte man, dass der Insasse mit der Nummer 76884 nicht mehr ansprechbar in seiner Zelle lag. Timmy wurde in einem Rollstuhl auf die Krankenstation gebracht, erst hier erkannte man die prekäre Situation in vollem Umfang. Mit dem Hubschrauber flog man ihn umgehend in die Sunshine Estate Klinik nach Las Vegas, doch es war zu spät. Die Ärzte dort konnte ihm nicht mehr helfen.
Tage quälender Ungewissheit
Erst nach einer Woche erhielt ich eine kurze Nachricht seiner Anwältin, dass ihr Klient verstorben sei. Selbst seine Anwältin wurde nicht rechtzeitig über die dramatische Verschlechterung seines Gesundheitszustands und letztlich seinen Tod informiert. Die angesetzte Autopsie wies drei bestimmende Faktoren als ursächlich für den Tod aus: eine unerkannte und somit unbehandelte Form von aggressivem Knochenkrebs, überdurchschnittlich hohe Entzündungswerte, hervorgerufen durch offene Wunden an den Beinen, und daraus resultierend eine letztlich zum Tod führende Sepsis. Die Ergebnisse dieser Autopsie erfuhr ich ungefähr ein Monat nach Timmys Tod, ein kleiner lokaler US-TV-Sender brachte einen kurzen Bericht darüber.
Folter, im weitesten Sinn des Wortes, besteht auch für Freunde oder Angehörige durch Desinformation.
Walter Ungerböck
Initiative gegen die Todesstrafe e.V.
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